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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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Er redet über die Spätantike, über die Zeit <strong>um</strong> 650. Alles Wichtige habe<br />

sich hier in dieser Gegend zwischen Wuppertal und dem heutigen<br />

Leverkusen abgespielt. Ich kann nun besser zuhören. Alle zwei Schritte<br />

bleibt er stehen, weil es so steil bergauf geht, und redet im Stehen weiter.<br />

<strong>Mein</strong> Blick geht über das weite Land, die Berge, Täler, ferne Kirchtürme,<br />

Schafe, Kühe, Bäche. "Schön haben Sie's hier, Herr Professor."<br />

Doch er wirkt bezugslos zur Welt. Ob jetzt dieses märchenhafte, zeitlose<br />

Panorama vor ihm ist o<strong>der</strong> die leere Muse<strong>um</strong>swand <strong>der</strong> Schirn nach<br />

Abhängen <strong>der</strong> letzten Bil<strong>der</strong> - es ist ihm dasselbe. Ob ihm die attraktive<br />

Lieblingsstudentin einen frechen Blick zuwirft o<strong>der</strong> ein toter leerer<br />

Bl<strong>um</strong>entopf nur d<strong>um</strong>m r<strong>um</strong>steht und schweigt - Brock sieht beides nicht.<br />

Er könnte auch als Stevie Won<strong>der</strong> <strong>der</strong> Pop-Philosophie auftreten, o<strong>der</strong>, in<br />

den ernsteren Auseinan<strong>der</strong>setzungen von heute, als westlicher Gegenpol<br />

z<strong>um</strong> blinden Hamas-Haßprediger von Gaza-Stadt.<br />

Wir erreichen die Sparkasse von Soest. Brock macht mit meinem Stock<br />

ein Kreuz in den Boden: "Hier genau hat man dem ersten von den 18 den<br />

Kopf abgeschlagen." Das ist traurig. Wir teilen uns den Flachmann.<br />

Dann machen wir kehrt. Die Geschichte <strong>der</strong> Spätantike ist wirklich<br />

spannend, ich vergesse die Zeit. Bazon redet wie im Rausch. Langsam<br />

verstehe ich den Wortbombast. Und komme sogar zu einer Frage:<br />

„Dr. Brock, viele Ihrer Schüler nutzten und nutzen Ihre ungeheure<br />

theoretische Potenz und missionarische Kraft, die ständig neue<br />

Gedankenverbindungen ausstößt, und viele sind erst durch Ihre Fähigkeit<br />

zur historischen Kontextualisierung in den Olymp <strong>der</strong> Künste gelangt, von<br />

Albert Oehlen bis Christian Boros. War<strong>um</strong> dankt man Ihnen das nicht?“<br />

„Oh, Boros tut es!“<br />

Er sieht mich z<strong>um</strong> erstenmal direkt an, wirkt glücklich. Und redet weiter!<br />

Er habe immer alles schon vorher gewußt, sei seiner Zeit immer voraus<br />

gewesen und so weiter, das könne niemand ertragen, kein Politiker und<br />

auch sonst niemand. Er referiert über Augstein, Burda, Handke...<br />

Wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Villa, müssen wir uns beeilen. Wir müssen zu Brocks<br />

Geburtstagsparty, die in Köln stattfindet. Er wird zwar erst am 2. Juni 70,<br />

aber er feiert schon jetzt solche Partys. Ich bin gerührt. Es erinnert mich<br />

an diese sympathischen jungen Frauen auf <strong>der</strong> Reeperbahn, die mehrmals<br />

im Monat Geburtstag haben. Man darf das alles nicht so ernst nehmen.<br />

Bazon setzt seine Frau und mich in einen nagelneuen 50.000 Euro BMW<br />

Jeep und fährt los, immer schön über alle Berge. Es ist wirklich ein Spaß.<br />

"Interessieren Sie sich für Autos?" frage ich, plötzlich in <strong>der</strong> irrwitzigen<br />

Hoffnung, ihn zu einer banalen Aussage bewegen zu können. Aber er<br />

schüttelt nur den Kopf. Der fette BMW macht echt was her. In Köln<br />

gucken die Bräute ganz schön, als wir den Ring entlang cruisen. Ich<br />

erzähle, was mir ein junger Mann über die 'Ringe' gesagt hat: Angeblich<br />

würden diese zu bestimmten Tagesstunden zu 85 Prozent von 'Pimps'<br />

beherrscht werden, also sogenannten Armani-Türken.<br />

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