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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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z<strong>um</strong>indest renoviert. Liegen die Häkeldeckchen mit den eingenähten<br />

Bleikügelchen immer noch auf dem Tisch von Oma Soundso? Sind die<br />

Ureinwohner immer noch so liebenswerte Tierchen mit dem Verstand einer<br />

Schnecke? Schrullig, kauzig, und auf dreistellige Alterszahlen zugehend?<br />

Sitzt die Großmutter noch am Kachelofen? Waschen die Spießer in<br />

karierten Holzfällerhemden noch immer ihre Opel Kadetts?<br />

Die Antwort verblüfft: Sie tun es mehr als damals. Irgendwie und gewiß<br />

unabsichtlich hat Illies das vielleicht mo<strong>der</strong>nste Buch <strong>der</strong> Saison<br />

geschrieben, nämlich <strong>eins</strong> über die alte Gesellschaft. Die Perspektive ist<br />

die eines dieser heute so typischen letzten Nachgeborenen inmitten einer<br />

Fülle von Alten und Uralten. Der Enkel, <strong>der</strong> im Altersheim aufwächst.<br />

Der Opa reißt die Dachluke auf, weil ein Zeppelin vorbeischwebt, und ruft<br />

"Hurra! Hurra!". Na prima. Da schmunzeln einem die Seiten entgegen,<br />

aber eigentlich ist das alles nur gruselig. Das reale Schlitz ist's nicht<br />

min<strong>der</strong>. Die Hauptstraße quält sich gewunden und tempodrosselnd durch<br />

den Ort. Ein anthrazitgrüner Golf V kommt herangeschlichen, weiß nicht,<br />

was er tun soll, mit einer alten Frau drin, die eine noch ältere Frau im<br />

Fond her<strong>um</strong>fährt. Provinz scheint zu sein, wenn immer Autos hin- und<br />

herfahren, die lackglänzend und grün und fabrikneu sind und in denen alte<br />

weißhaarige Leute sitzen, die rüstig sind und freundlich, aber mit denen<br />

man kein Wort wechseln möchte. Früher, das sagen alle Schlitzer, war<br />

Leben auf den Straßen. Wo ist das Leben bloß hingegangen? Schlitz wirkt<br />

wie eine Westernstadt, in <strong>der</strong> Mittagsglut, in New Mexico.<br />

Man sieht ka<strong>um</strong> einen. Ab und zu ein paar Alte. Die sich immer etwas über<br />

die Straße hinweg zurufen, was man aber nicht versteht, weil Hessisch.<br />

O<strong>der</strong> eine kahlrasierte Punkerin, fett, schiebt einen Kin<strong>der</strong>wagen vor sich<br />

her, im Hintern eine lange Silberkette mit dem Schlüsselbund. Solches<br />

Personal kennt man aus den Oliver-Geissen-Shows, und man weiß: das ist<br />

Provinz, und genau des<strong>halb</strong> zieht man in die Stadt, sobald man ein<br />

Girokonto eröffnen kann.<br />

Drei junge Leute lümmeln am stillgelegten Schlitzer Bahnhof. Ein Bus<br />

fährt jetzt hier an manchen Tagen, aber auf den warten sie nicht. Sie<br />

hängen einfach nur ab. Sie fluchen auf alles, was mit Schlitz zu tun hat.<br />

"Die Gemeindepolitiker tun wirklich alles für die Menschen hier - wenn sie<br />

nur alt sind! Für die Jugend wird absolut nichts getan." Das Jugendhaus<br />

wurde geschlossen, weil Russen es demoliert hatten. "Die Russen haben<br />

alles zerschlagen, die letzten Sachen mitgenommen, sogar den Computer<br />

geklaut." Unter den Jugendlichen hätten Deutsche keine Chance mehr. In<br />

Schlitz gibt es nur noch eine Schule - die Gesamtschule - und da herrsche<br />

Gewalt und Drogen durch die Auslän<strong>der</strong>. "Wenn ich mal Kin<strong>der</strong> hab, geh<br />

ich weg hier. Die kann ich nicht in diese Schule <strong>eins</strong>chulen!" Fulda sei<br />

besser. Da gebe es noch mehr deutsche Kin<strong>der</strong> und auch verschiedene<br />

Schulformen.<br />

"Ortsgespräch" wird in ganz Deutschland gelesen werden und zu einer<br />

romantischen Rückbesinnung auf Natur und Heimat führen. In Schlitz<br />

nicht.<br />

Fußnote:<br />

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