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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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15. Ferien in Klagenfurt - Bachmannwettbewerb<br />

16. Frankfurter Buchmesse - Marcel Reich-Ranicki<br />

Es geschah auf <strong>der</strong> Frankfurter Buchmesse. Es war das Krisenjahr 2002. Der<br />

ICE 3, wirklich ein schneller Zug, viel schneller als <strong>der</strong> normale ICE, dazu<br />

noch leiser, 'flog' mit 320 km/h auf Frankfurt zu. Die Melba und ich saßen<br />

angeschnallt in den 'Sprinter'-Fauteuils, vor uns die Computer und die<br />

Bordgetränke, links die nahenden Wolkenkratzer <strong>der</strong> Messegesellschaft.<br />

Wehe wenn dieser Zug jemals in die Hände fanatischer Islamisten geriet,<br />

dachte ich und lächelte <strong>der</strong> Stewardess zu. In Deutschland schlossen die<br />

Buchhandlungen. Die Branche lag in Agonie. Aber die junge Stewardess<br />

würde bald weggeheiratet sein, von einem reichen Fahrgast gehobenen<br />

Alters, die war krisensicher. Die Melba dagegen... ich sah sie an.<br />

Die Melba war eine Legende. Milliarden von Männern hatten mit ihr schlafen<br />

wollen. Dachte die Melba z<strong>um</strong>indest. Das war natürlich überhaupt nicht so.<br />

O<strong>der</strong> doch? Was wußte ich von den Männern? Ich war ein Literat. Ich<br />

beschäftigte mich mit Büchern und Kritikern.<br />

Da war z<strong>um</strong> einen <strong>der</strong> Mitarbeiter <strong>der</strong> Frankfurter Allgemeinen Zeitung Marcel<br />

Reich-Ranicki. Seit Urzeiten diente er mir schon als Vaterersatz, da ich<br />

meinen leiblichen Vater aus Kriegsgründen nicht kennengelernt hatte; schon<br />

kurz nach <strong>der</strong> Rückkehr aus sowjetischen Kriegsgefangenenlagern war er an<br />

den Folgen einer Kriegsverletzung gestorben. Die prunkvolle Beerdigung ist<br />

heute noch die erste Lebenserinnerung meines älteren Bru<strong>der</strong>s Ekkehart, <strong>der</strong><br />

am 12.Oktober 1954 zur Welt kam, auf den Tag genau vor 48 Jahren. Aber<br />

Reich lebte! Er hatte die Lager überstanden. Des<strong>halb</strong> wandte ich mich immer<br />

wie<strong>der</strong> an ihn. Schon mein erstes Schulgedicht (über Peter Handke) hatte ich<br />

ihm geschickt, in die Gustav-Freytag-Straße nach Frankfurt. In meiner<br />

Doktorarbeit Jahrzehnte später (wie<strong>der</strong> über Peter Handke) erwähnte ich ihn<br />

als großen Einfluß und gab ihm einen credit in meinen endlosen<br />

Danksagungs-Episteln, in <strong>der</strong> Hoffnung, er würde es erfahren. Das war<br />

natürlich <strong>der</strong> typisch weltfremde Unsinn des Studenten, <strong>der</strong> ich damals war,<br />

noch keine 32 Jahre alt. 15 Schuljahre und 19 Semester hatte ich bis zur<br />

Schlußsentenz meiner Handkeforschung verbraten - na, egal. Ich sah auf die<br />

Melba. Die hatte dafür vielleicht zu viele Marylin-Monroe-Filme gesehen? In<br />

Deutschland hatte eben je<strong>der</strong> seine Macke.<br />

Die Reich-Ranicki-Macke hatten viele, also viele Autoren. Jedenfalls die<br />

älteren. Die bedeutendsten Vertreter seiner eigenen Generation, Martin<br />

Walser, und <strong>der</strong> Söhne-Generation, Bodo Kirchhoff, hatten gerade große<br />

Romane darüber in den Markt geschoben. Reich-Ranicki wurde darin immer<br />

getötet, was aus psychologischer Sicht angeblich notwendig war, ich jedoch<br />

ablehnte. In meinem Reich-Ranicki-Roman dürfte er weiterleben, schriebe ich<br />

einen. Aus psychologischer Sicht war das notwendig, das Schreiben, wegen<br />

des Vaterkonflikts und so weiter.<br />

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