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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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Ich wartete, bis er aufstand und ins Kaminzimmer ging, <strong>um</strong> Melbas nackten<br />

Oberkörper aus <strong>der</strong> Nähe zu betrachten. Alle Männer taten das irgendwann.<br />

Sie waren schließlich AUCH Männer, und die Melba war nichts an<strong>der</strong>es als<br />

eine Frau, nicht war, schließlich und endlich. Machen wir uns doch nichts vor.<br />

Seien wir für einen Moment mal ehrlich, Himmelherrgott. Sie hatte eine gute<br />

Haut, die Melba, und einen verdammt guten Oberkörper, hehe... ja, und so<br />

kam dann auch <strong>der</strong> Literaturpapst näher. Aber nicht weit kam er. Ich paßte<br />

ihn ab, als er gerade durch die offene Tür gekommen und die leerstehende<br />

Mitte des Ra<strong>um</strong>es erreicht hatte. Im Radius von gut drei Metern war, in<br />

dieser einen Sekunde, niemand sonst als er. Und ich, <strong>der</strong> ich ihm freundlich<br />

und arglos die Hand schüttelte, ein zweitesmal an diesem Abend. In dieser<br />

kurzen, aufblitzenden Begegnung, als er erneut nicht wußte, ob er mich nicht<br />

doch gut kannte und das Beste von mir zu halten hatte, sah er gut aus: jung,<br />

nett, naiv, freundlich. Zeitlos. Er hätte auch 56 o<strong>der</strong> 16 sein können. Der<br />

große Augenabstand gefiel mir, die nicht h<strong>um</strong>orlosen Gesichtszüge, die<br />

frische Gesichtsfarbe. Der Mensch hatte gute Laune, und bescheiden und<br />

höflich war er auch. Fast devot sah er zu Boden, da es ihm peinlich war, sich<br />

nicht an meinen Namen zu erinnern. Womöglich gehörte ich ja auch zu den<br />

'Spitzen aus Politik und Wirtschaft'. Ich fragte dann, ob er sich noch an mich<br />

erinnere, an <strong>Joachim</strong> <strong>Lottmann</strong>. Ich sprach meinen Namen ganz<br />

selbstverständlich und doch deutlich aus. Er schüttelte den Kopf. Ich wußte,<br />

er würde gleich unfreundlich werden und rasselnd "was wollen Sie?!" fragen.<br />

Ich erklärte schnell:<br />

"Ich habe mich so sehr über Ihre liebe... Dankesschrift... an mich gefreut,<br />

Herr Professor!"<br />

Er sah zu Boden, schüttelte den Kopf, sagte:<br />

"Was wollen Sie von mir?!"<br />

"Ich bin, äh, dieser Autor, <strong>der</strong> Ihnen immer geschrieben hat... daß er nur<br />

Ihretwegen noch schreiben kann in diesem Land!"<br />

Er sah nicht mehr zu Boden, son<strong>der</strong>n ging blitzschnell weiter, wirklich<br />

erstaunlich schnell für einen 82jährigen, und machte dabei in<br />

unnachahmlicher Weise eine wegwerfende Handbewegung. Das war schon<br />

klasse, und ich mußte anerkennend schmunzeln, fast lachen. Wie konnte<br />

man so sehr über den Dingen stehen? Das ging nur, wenn man eine echte<br />

Vaterfigur war. John Wayne schickte mit solch einer Handbewegung kleine<br />

Schurken weg. Und die Brü<strong>der</strong> von Oasis,Väter des Britpop, zeigten<br />

irgendwelchen min<strong>der</strong>jährigen Fans mit dieser Geste den Ausgang. Ich pfiff<br />

leise durch die Zähne und wollte es gut sein lassen. Mehr Reich-Ranicki war<br />

gar nicht nötig.<br />

Zoe Jenny war gegangen. Ja, sie hatte es keine Sekunde länger ausgehalten.<br />

Das war schade, denn sie war die einzige, an die ich mich wenigstens<br />

theoretisch noch hätte wenden können. Die Melba saß am Feuer. Ohne Zoe<br />

fühlte ich mich völlig verlassen in <strong>der</strong> Altherrenrunde.<br />

Noch einmal durchstreifte ich die Villa. Am Büffett nahm ich nochmal Speisen<br />

auf einen Teller, aß sie aber nicht mehr. Die Bücher an den Wänden, sicher<br />

Hun<strong>der</strong>ttausende und alles Werkausgaben, waren echt. Von Maupassant<br />

fehlten die Romane. Ich redete nochmal mit <strong>der</strong> Melba, aber die hatte nur<br />

noch die fremden Männer im Kopf, <strong>der</strong>en armes Opfer sie noch in dieser<br />

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