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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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Z<strong>um</strong> ersten Mal schlug ich das Thema dem SPIEGEL vor, als die Gruppe "Durch den<br />

Monsun" herausbrachte. Ich sah das Video zufällig auf dem Musikkanal VIVA. Ich drehte<br />

lauter. Als ich in die Küche zu meiner Frau Barbi ging, hörte ich, dass sie mitsang. Aber<br />

nicht richtig, sie äffte es eher nach. Sie kannte das Lied schon und hasste es. Ich dachte<br />

spontan: "Ich sollte einen Artikel schreiben, <strong>der</strong> müßte die Überschrift tragen: `Sind<br />

Tokio Hotel die neuen Beatles?`" War<strong>um</strong> ich das dachte, weiss ich nicht. Vielleicht weil<br />

meine Mutter, als ich sieben war und z<strong>um</strong> erstenmal die Beatles hörte, ebenso reagierte.<br />

Erwachsene mögen keine Kin<strong>der</strong>musik. Ich mußte nicht darüber nachdenken, wie die<br />

Redakteure des SPIEGEL Tokio Hotel fanden. Natürlich unter aller Sau.<br />

Indiskutabel. Das absolut letzte. Das sagten sie nicht. Das dachten sie nicht einmal.<br />

Aber ich wußte es. Wenn ich meinen Artikel so nannte, war das die größte denkbare<br />

Provokation für sie, diese Riege alter Babyboomer und Beatlesfans. Als würde man einen<br />

gläubigen Moslem fragen: `War Mohammed Britney Spears?`. Ich schrieb mehrere E-<br />

Mails an den Ressortchef, das Thema immer weiter ausschmückend, bekam aber keine<br />

Antwort. Dann schlug ich es in <strong>der</strong> Redaktionssitzung vor.<br />

<strong>Mein</strong>e Angst war insgeheim, man würde mir sexuelle Neigungen zu den kleinen Jungs<br />

unterstellen, da jedes an<strong>der</strong>e Motiv ausgeschlossen war. Die Reaktion darf ich nicht<br />

schil<strong>der</strong>n, da ich Redaktionsgeheimnisse nicht verbreiten darf. Nur<br />

soviel: Es geschah nichts. Ein <strong>halb</strong>es Jahr verging. Die Gruppe wurde immer bekannter,<br />

mein Interesse immer geringer. Nach ihrem dritten N<strong>um</strong>mer Eins Hit schlug ich das<br />

Thema nochmal vor, und diesmal bekam ich ein mattes Okay. Ich konnte jetzt<br />

wenigstens mal auf eigene Faust recherchieren, ohne ein Dementi <strong>der</strong> Redaktion<br />

befürchten zu müssen. Inzwischen hatte <strong>der</strong> `stern` die übliche Alles-nur-gemacht<br />

Entlarvungsgeschichte gedruckt, wie sie es bei je<strong>der</strong> echten Neuheit seit<br />

35 Jahren tun. Das beruhigte die Kollegen, die nun wohl auch von mir eine<br />

spotttriefende, hämische Hinrichtung von Tokio Hotel erwarteten. Es kam zu einem<br />

Treffen mit den vier Jungen in einem norddeutschen Bauernhof, wo sie irgendwie<br />

trainierten, Butterbrote aßen, den Hühnern zusahen o<strong>der</strong> sonstwie abtauchten.<br />

Es war nicht ihr Elternhaus, aber so etwas ähnliches. Völlige Ruhe <strong>um</strong>gab das irgendwie<br />

gottverlassene Anwesen. Ich machte mein Interview, und da die Kin<strong>der</strong> nichts<br />

Brauchbares antworteten, dauerte es ewig. Es ist nämlich so: Ich kann kein Interview<br />

beenden, bevor nicht etwas Sinnvolles und somit Druckwürdiges gesagt wurde. Als die<br />

üblichen 20 Minuten vorbei waren, hatte ich noch keinen einzigen Gedanken auf dem<br />

Zettel. So machte ich weiter. Nach vier Stunden hatte ich endlich soviel Material, dass ich<br />

mir zutraute, durch geschickte Verdichtung, Collagetechnik, mit dem Management<br />

abgesprochene Manipulation, eigene Inspiration sowie weitere Schnipsel in privaten<br />

Gesprächen "off the record", mein Interview fertig zu kriegen. Dabei ist zu sagen, dass<br />

die Antworten von Bill und Tom Kaulitz keineswegs d<strong>um</strong>m waren, im Gegenteil: sie<br />

waren zu klug. O<strong>der</strong> zu richtig, zu realistisch, zu professionell. Es waren<br />

Roboterantworten, die aber nicht von Robotern gesprochen wurden, son<strong>der</strong>n von höchst<br />

leidenschaftlichen, liebenswerten Jugendlichen. Man hat diesen Eindruck (ganz selten)<br />

einmal, wenn einem ein neues Politikergesicht ausnahmsweise sympathisch ist, etwa<br />

Katja Kipping, bevor es schon beim zweiten o<strong>der</strong> dritten Talkshowauftritt für immer in<br />

<strong>der</strong> eigenen Wahrnehmung erstarrt. Die an<strong>der</strong>en beiden Jungs waren nett und normal.<br />

Sie sprachen nicht wie Roboter. Es waren Menschen. Aber es ging auch keine Faszination<br />

von ihnen aus. Faszinierend waren Tom und Bill, wobei Bills Faszination deutlich größer<br />

war als Toms. Ohne im mindestens schwul zu wirken o<strong>der</strong> zu sein, wahrscheinlich gerade<br />

des<strong>halb</strong>, verwirrte er die Sinne aller Menschen, Tiere und Gegenstände beträchtlich. Der<br />

Mann war nicht einzuordnen, von niemandem, und selbst Jesus Christus hätte Mühe<br />

gehabt, ihm den Bru<strong>der</strong>kuss zu geben ohne Herzklopfen.<br />

Wir waren uns sympathisch und verabredeten ein weiteres Treffen. Ich wollte mir die<br />

Gruppe live beim <strong>Auf</strong>tritt ansehen, und zwar in <strong>der</strong> Glückauf Kampfbahn in<br />

Gelsenkirchen. <strong>Mein</strong> Interview löste beim SPIEGEL verheerende Reaktionen aus.<br />

Es würde zu lange dauern, all die verschiedenen Versuche meinerseits, das Interview zu<br />

retten, <strong>um</strong>zuschreiben, zu kürzen und so weiter, und die Reaktionen <strong>der</strong> Redaktion<br />

darauf zu schil<strong>der</strong>n. Wahrscheinlich ist <strong>der</strong> ganze Prozeß gar nicht mehr rekonstruierbar.<br />

Wozu auch, die Interviewform war ohnehin nicht typisch für mich und die Arbeit beim<br />

SPIEGEL. Interviews müssen immer geän<strong>der</strong>t werden, haben mit Kreativität und<br />

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