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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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An dieser Werbung kann man wie<strong>der</strong> schön sehen, wie lange es dauert,<br />

bis sich eine gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ung bis zu den Werbefuzzis<br />

her<strong>um</strong>gesprochen hat. Diese Anzeige will lustig sein. Sie baut auf das alte<br />

Vorurteil, Frauen liebten Kin<strong>der</strong> und Männer erlebten den Beginn einer<br />

Schwangerschaft als grössten anzunehmenden Unfall. Jetzt muss <strong>der</strong><br />

arme Tropf, suggeriert das Plakat, den One Night Stand heiraten, dem<br />

Kind seinen Namen geben, die Frau 60 Jahre lang bis zur diamantenen<br />

Hochzeit durchfüttern.<br />

Alles Quatsch. Wenn es heute jemanden gibt, <strong>der</strong> objektiv allen Grund<br />

hat, keine Kin<strong>der</strong> zu wollen, dann ist es die Frau. Sie hätte nämlich<br />

neunzig Prozent aller Belastungen zu tragen, die damit verbunden<br />

sind. Ohne dafür das zu kriegen, was Frauen früher im Gegenzug<br />

bekamen: die Heirat, die Versorgung, den Status, die soziale Absicherung,<br />

die Befreiung von <strong>der</strong> Erwerbsarbeit. Und das wissen alle.<br />

Umgekehrt wollen die Männer heute Nachwuchs. Sie haben nichts zu<br />

bieten und nichts zu erwarten, haben keine richtige Arbeit und keine echte<br />

berufliche Perspektive, ja sie haben überhaupt keine Perspektive, nicht in<br />

Deutschland, ka<strong>um</strong> in <strong>der</strong> Schweiz – was nicht ihre Schuld ist. Da passt es<br />

wun<strong>der</strong>bar, wenn sich plötzlich eine Familie als grosser Sinnersatz<br />

gründen lässt. Und wieso «-ersatz»? Es ist <strong>der</strong> Sinn, auch das spricht sich<br />

schnell her<strong>um</strong> bei den Neo-Slackern <strong>der</strong> digitalen Bohème, den<br />

arbeitslosen Dauerstudenten, den nicht vermittelbaren Akademikern,<br />

<strong>der</strong> ganzen «Generation Praktik<strong>um</strong>». Bevor ihr ganz verzweifelt, macht<br />

Kin<strong>der</strong>!<br />

In den Berliner Jugendbezirken Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain<br />

– ältere Journalisten würden von «Szene» faseln – laufen so viele neue<br />

Väter her<strong>um</strong>, dass ein Mann ohne Kin<strong>der</strong>wagen auffällt wie in Riad eine<br />

Frau im Bikini.<br />

Aber nicht nur die jüngeren Männer wollen Väter werden, bevor sie gar<br />

nichts werden. Das Virus hat alle Altersgruppen erfasst. Frauen erzählen<br />

einem, dass es heute kein erstes Date mehr gibt, an dem <strong>der</strong> Mann nicht<br />

sehr rasch testend durchblicken lässt, wie wichtig ihm <strong>der</strong> Punkt sei und<br />

wie es überhaupt damit stehe bei ihr? Eine Freundin empörte sich: «Noch<br />

bevor man überhaupt Sex hatte! Bevor man die Eltern kennen gelernt und<br />

Weihnachten hinter sich gebracht hat! Bevor überhaupt irgendetwas<br />

gelaufen ist, soll man sagen: Ja, ich will Kin<strong>der</strong> mit Ihnen! Das ist doch<br />

wohl das Letzte!»<br />

Für Frauen sind Kin<strong>der</strong> das Letzte, für Männer inzwischen das Erste, woran<br />

sie denken. Sie wollen alle Kin<strong>der</strong>, alle, alle. In Deutschland ist man<br />

schnell masslos.<br />

Entwe<strong>der</strong> sind alle für das Vaterland o<strong>der</strong> keiner (jüngst bei <strong>der</strong> WM<br />

wie<strong>der</strong> alle). Das Denken und Fühlen rauscht immer im Kollektiv durch die<br />

Geschichte. Und jetzt hat die Grossgruppe das Wun<strong>der</strong> des Lebens<br />

entdeckt und will «Verantwortung übernehmen». Z<strong>um</strong>al doch «wir»<br />

gerade aussterben. Bei so vielen Embryos im Leib <strong>der</strong> Frauen wird die<br />

Bevölkerung bald auf das Doppelte hochschnellen.<br />

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