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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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"Nein, nein, ich hör jetzt auch auf. Ich habe Ihnen auch gar nichts weiter zu<br />

sagen im Moment."<br />

"Ja."<br />

"Tschüß!"<br />

"Tschüß!" Sein Abschiedstschüß war nett, also in einem erhöhten,<br />

verbindlichen Ton gesagt, sodaß ich davon ausgehen konnte, Reich-Ranicki<br />

stecke wirklich in Arbeit. Ich hatte ihn gestört, aber nicht belästigt. Bei einer<br />

nächsten Begegnung würde er mir nichts vorwerfen.<br />

Diese Begegnung erfolgte also am heutigen 12. Oktober 2002, mehr als volle<br />

drei Jahre nach diesem Gespräch. Vielleicht würde er sich ja sogar an das<br />

Wort STREITKULTUR erinnern und ich konnte daran anknüpfen. O<strong>der</strong> er<br />

würde an <strong>der</strong> Melba hängenbleiben, das käme auf dasselbe hinaus. Wenn die<br />

Melba doch bloß nicht so übertreiben würde mit ihrer Frau-Frau-Macke. Sie<br />

war fast 40 und wurde immer d<strong>um</strong>mchenhafter. Sie spielte die verwirrte<br />

Zwölfjährige und redete allmählich Tag und Nacht über 'Das Eine', also die<br />

Liebe. Doch in Wirklichkeit war sie die erfolgreichste Frau Deutschlands. Sie<br />

hatte eine Prominentenagentur gegründet, die inzwischen den Markt<br />

beherrschte wie die Bild Zeitung die Medienlandschaft. Und sie hatte das<br />

ohne Tricks und Aggressivität geschafft, allein durch ihre Intelligenz. Umso<br />

dämlicher, ja unerträglicher wirkte auf mich das D<strong>um</strong>mchengetue. Hoffentlich<br />

nicht auch auf Reich-Ranicki. Sie war in <strong>der</strong> Lage, auf <strong>der</strong> heutigen Party<br />

einen Schuh zu verlieren, tränenüberströmt das zu beklagen und alle Herren<br />

über 55 danach suchen zu lassen...<br />

Und das war nicht naiv, son<strong>der</strong>n krank. Um einmal eine Position zu beziehen.<br />

Und ich sage sogar: Bei Marylin war es NICHT krank, auch wenn sie daran<br />

starb. Aber je<strong>der</strong> Mensch in unseren Kreisen hat so einen Bereich, <strong>der</strong> krank<br />

und verrückt ist, weil wir halt im postfaschistischen Deutschland leben.<br />

Zudem ist es möglich, daß wenigstens die Generation <strong>der</strong> Urenkel wie<strong>der</strong><br />

ganz normal ist. Also die Leute unter 22. Das ist mein Befund bisher. Ich<br />

kenne viele Leute <strong>um</strong> die 20 und mag sie sehr.<br />

"J-Lo, war<strong>um</strong> sind die Männer so? Und war<strong>um</strong> sind Frauen so an<strong>der</strong>s?" fragte<br />

die Melba, besann sich aber wie<strong>der</strong> und organisierte unsere Fahrt z<strong>um</strong> Stand<br />

unseres Verlages auf <strong>der</strong> Buchmesse. In nur zehn Minuten waren wir da.<br />

Früher hatte ich dafür immer eine Stunde gebraucht. Eine Stunde extremer<br />

Stress. Aber früher war die Buchmesse auch eine an<strong>der</strong>e. Der Höhepunkt<br />

ihrer Bedeutung war Ende <strong>der</strong> 90er Jahre, ziemlich genau zur<br />

Jahrtausendwende, als Grass seinen Nobelpreis erhielt und die Popkultur<br />

zwar verrissen, aber gekauft wurde wie nie zuvor. Allein 'Crazy' verkaufte<br />

mehr als alle Titel <strong>der</strong> 80er Jahre zusammen. Christian Kracht wurde als<br />

neuer Messias gefeiert und Rainald Goetz als Gottvater. Elke Naters als<br />

Maria. Stuckrad-Barre als Paulus. Ich selbst als neuer Judas. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> unter<br />

<strong>der</strong> Hand dem bräsigen Poetismus früherer Generationen abschwor und<br />

stattdessen versprach über den Alltag zu schreiben, bekam einen Vertrag.<br />

Wun<strong>der</strong>bar! Das hatte ich immer gewollt. Das Buch war wie<strong>der</strong> z<strong>um</strong><br />

Leitmedi<strong>um</strong> geworden, die Buchmesse platzte vor Menschen und<br />

Sensationen. Um ein Taxi zu kriegen, wartete man in Schlangen von hun<strong>der</strong>t<br />

Metern. Das war einmal.<br />

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