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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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provinziell klingen, örtlich begrenzt, denn 90 Prozent <strong>der</strong> Erdenbürger<br />

spricht Englisch NICHT akzentfrei. Die lakonische Pia Lund ist wie<strong>der</strong><br />

dabei, allerdings noch uneitler, noch zurückgenommener, noch<br />

anziehen<strong>der</strong> als im letzten Jahrhun<strong>der</strong>t. Die Songs sind bis auf einen sehr<br />

schnell, sehr intelligent, unbeschreiblich rhythmisch, lassen sofort die<br />

Knochen wippen. Man kann nicht an<strong>der</strong>s, als "gut drauf" zu kommen,<br />

inspiriert zu sein plötzlich, und so frage ich frech:<br />

"War<strong>um</strong> ziehst Du nicht in eine Gegend OHNE Elend? Du kannst es Dir<br />

doch leisten. Nach Köln z<strong>um</strong> Beispiel, wo alle jung und fröhlich sind?"<br />

"Ich mag diese 'Fröhlichen' nicht. Ich mag ehrliche Leute." Er streicht sich<br />

die Haartolle zurück wie ein Handwerker, <strong>der</strong> gerade für ehrlichen Lohn<br />

Steckdosen verlegt hat.<br />

Stimmt. Hier sind alle offensichtlich ehrlich. Aber was ist das genau,<br />

Ehrlichkeit? Wie geht das, wie macht man das, tut das weh? Ich sehe nach<br />

draußen. Kanzler Schrö<strong>der</strong> wirbt auf großen Plakaten mit dem schwer<br />

verständlichen, z<strong>um</strong>indest schwer auswendig zu lernenden Satz "Wer<br />

Gerechtigkeit will, muß das Soziale sichern". Drei Abstrakta in wenigen<br />

Silben, respect. Er im Oberhemd, Ärmel <strong>halb</strong>hoch aufgekrempelt, die<br />

Faust geballt, <strong>der</strong> Blick z<strong>um</strong> Himmel. Ich mag ihn. Für mich verkörpert er<br />

Ehrlichkeit. Nur deswegen lieben ihn die Deutschen immer noch <strong>um</strong> soviel<br />

mehr als die Merkel.<br />

Wie im Osten sind die Verkehrsmittel perfekt ausgebaut. Straßenbahnen,<br />

zentrale U-Bahnhöfe, Busse im Minutentakt, alles toll. Aber wozu? Es<br />

lungern ja doch nur untätige Penner-Punks mit ihren fetten Hunden auf<br />

den Haltestationen. Die Bevölkerung ist gut zwei Generationen älter als<br />

die von Köln.<br />

"Findest du es beson<strong>der</strong>s 'ehrlich', nicht zu arbeiten? Ich meine, macht es<br />

die Sache ehrlicher, weil man unfreiwillig nicht arbeitet?"<br />

"Diese Leute gibt es. Sie sind da. Einer muß sich <strong>um</strong> sie kümmern!"<br />

Er streicht die dichten grauen Haare nach hinten. Er hat das nächste<br />

Kuchenrestaurant für Senioren angesteuert. Wir nahmen Windbeutel aus<br />

selbstgerührter Schlagsahne und aufgewärmten Himbeeren, dazu ein<br />

Kännchen Kaffee Hag. Die liebe Freundin kümmert sich <strong>um</strong> ihn, das sieht<br />

man. Sie bedient ihn nicht, aber sie ist mit Leib und Seele an seinem<br />

Wohlergehen interessiert. Sie will doch nur, daß es ihm gut geht. Mich<br />

beeindruckt das sehr. So eine hätte auch <strong>der</strong> Papst gern unter seinen<br />

Kids, hat sie aber nicht. Ich war ein paar Tage mit diesen Pilgermassen<br />

unterwegs; die sind laut und rüde, sowie permanent auf Partnersuche. Ich<br />

spreche das an, sage, Boa stehe in künstlerischer, weltanschaulicher<br />

Konkurrenz z<strong>um</strong> Papst. Seine Songtexte auf <strong>der</strong> neuen CD kulminierten in<br />

<strong>der</strong> Zeile, er wolle immer noch die Welt verän<strong>der</strong>n, und zwar mehr denn<br />

je. Des<strong>halb</strong>:<br />

"<strong>Auf</strong> z<strong>um</strong> Ratzinger, Alter! Das schauen wir uns doch an!"<br />

Er grunzt nur. Genauso könnte man versuchen, Helge Schnei<strong>der</strong> z<strong>um</strong><br />

Wellness-Kurs in die Schweiz zu überreden. Er zahlt und zeigt mir weiter<br />

seinen Kiez. Wir fahren an einem an sich schönen, mo<strong>der</strong>nen RWE-<br />

Gebäude vorbei, sehr hoch, komplett aus schwarzem Marmor und<br />

kreisrund, aber unten ist die Straße aufgerissen, liegt Gerümpel her<strong>um</strong>,<br />

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