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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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Sprachschönheit nichts zu tun. Diesen Konflikt hatte ich dagegen wie<strong>der</strong> bei meiner<br />

Reportage über das Tokio Hotel Konzert, die ich nun schrieb. Wie alle meine Texte war<br />

sie rund<strong>um</strong> gelungen und unverbesserbar wie eine Fuge von Bach. Das Ritual des<br />

Umschreibens und Verschlechterns begann. Nach dem 37. Umschreiben - zuletzt nur<br />

noch von meiner Frau Barbi vorgenommen - war <strong>der</strong> Text komplett ruiniert. Es gab nun<br />

z<strong>um</strong> Thema Tokio Hotel bereits zwei zerstörte <strong>Lottmann</strong>texte, beide aufwendig<br />

recherchiert und teuer finanziert. Das war wohl <strong>der</strong> Grund, war<strong>um</strong> über viele weitere<br />

Zwischenstufen es dann plötzlich DOCH zu einer Veröffentlichung kam. So kommt es<br />

nämlich auch bei dem normalen Mitarbeiter z<strong>um</strong> Erfolgserlebnis: er wird gedruckt, weil er<br />

sich solange bemüht hat, so lange r<strong>um</strong>gekrebst hat in <strong>der</strong> Warteschleife mit den 300<br />

an<strong>der</strong>en unglücklichen Mitarbeitern, weil er "dran ist". Es kam nun zu einer Fassung, die<br />

alle möglichen Elemente <strong>der</strong> 37 <strong>um</strong>geschriebenen Versuche enthielt, z<strong>um</strong> Beispiel diesen<br />

Musikwissenschaftler, <strong>der</strong> die musiktechnischen Gem<strong>eins</strong>amkeiten von Tokio Hotel und<br />

den Beatles erklärte. Von meinem ersten Themenvorschlag bis zur Realisierung war<br />

genau ein Jahr vergangen. Das Provokationpotential war fast schon verflogen; die Band<br />

stand kurz davor, auch von den seriösen Medien anerkannt zu werden. Vielleicht auch<br />

nicht, vielleicht lag es nur an meinem SPIEGEL Artikel, <strong>der</strong> dazu führte, dass Tom und Bill<br />

Kaulitz in die nächste Beckmannsendung durften. Der `stern` schwenkte <strong>um</strong>, brachte<br />

den ersten "sie sind wirklich neu"-Bericht seit Menschengedenken. <strong>Mein</strong> Anliegen, eine<br />

Band zu för<strong>der</strong>n, die keine Casting Band ist, und dabei das Casting Unwesen als Teil einer<br />

großen Generationenungerechtigkeit zu zeigen, hatte ich durchgesetzt. Es war dasselbe<br />

Anliegen, dass mich auch meinen letzten Roman `Zombie Nation` schreiben liess. Beim<br />

SPIEGEL blieb das Entsetzen. Tokio Hotel gut? Quel blasphémie! Es war so, und das ist<br />

natürlich auch wie<strong>der</strong> ein bißchen ärgerlich und albern, als hätte ich mir durch diesen<br />

Artikel selbst beweisen wollen, wie recht ich doch in "Zombie Nation" gehabt hatte: die<br />

Generation <strong>der</strong> deutschen Feuilletons, diese von-Neill-Young-bis-Madonna-Generation,<br />

objektiv und subjektiv ja längst "Zombies" (daher <strong>der</strong> Titel) verhielt sich gegenüber<br />

allem, was nicht in ihren 1981-er Kanon paßte, arrogant und ignorant.<br />

27. Palast <strong>der</strong> Republik - DER KIRCHENTAG DER NEUBAUTEN<br />

Es war ganz schön scheußlich. Wirklich. Es war so, wie man sich es<br />

vorstellt: altgewordene Wendeverlierer aus dem Westen verkrümeln sich<br />

in den Weiten <strong>der</strong> galaktisch großen Tiefkühltruhe 'Palast <strong>der</strong> Republik'.<br />

Nun sind diese beiden Worte "Einstürzende Neubauten" und "Palast <strong>der</strong><br />

Republik" allein schon einen Artikel wert. Weil ja diese Band so alt und<br />

eingestürzt ist wie <strong>der</strong> Palast selbst. Weil da zwei Deutschlands<br />

zusammenfinden, die beide etwas Haarsträubendes haben: Die Grufti-<br />

Szene aus seligen Kohl-Tagen und die tote Welt <strong>der</strong> Inka-Mon<strong>um</strong>ente<br />

Erich Honeckers. Das müßte eigentlich was geben. Und <strong>der</strong> Artikel wird ja<br />

auch geschrieben.<br />

'Ideal' piept und säuselt aus dem Tour-Bus. Berlin leuchtet. Der Dom, von<br />

Willem Zwo höchstselbst bezahlt, funkelt neben den ganzen an<strong>der</strong>en<br />

evergreens <strong>der</strong> Berliner Republik, Schinkels Neue Wache, Schrö<strong>der</strong>s Alte<br />

Kommandatur, Schadows Zeughaus und so weiter. Doch dann <strong>der</strong> 'Palast'!<br />

Wie eine US-amerikanische 'gothic'-Comicphantasie ragt das braune<br />

Rostgebirge in den schwarznassen Nachthimmel. Hier können sie, mal<br />

wie<strong>der</strong>, 'blade runner II' drehen. Eine lange Schlange wie vor dem Moma<br />

kriecht von <strong>der</strong> Straße her an das gestürzte Megasymbol unbarmherziger<br />

Diktatur heran, wohl am Brandenburger Tor beginnend. Keine Autos. No<br />

games, just sport. Die Leute sehen alle aus wie Michael Stipes o<strong>der</strong> wie<br />

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