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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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angefaßt, so etwas muß in unserem Kulturkreis stets die Frau machen;<br />

das ist ihr kulturhistorisch verbrieftes Recht, alles an<strong>der</strong>e zählt als<br />

Vergewaltigung. Nun, die vielen Stunden des Redens, Lachens und<br />

Scherzens hatten mein Nervenkostüm wundgescheuert. Ich bin<br />

normalerweise ein nervlich sehr stabiler Mensch. Ich könnte Jahre auf<br />

einer <strong>eins</strong>amen Insel durchhalten, ohne depressiv zu werden. Aber das<br />

Soziale strengt mich an. Etwas in mir for<strong>der</strong>t anschließend eine<br />

Kompensation in Form von körperlicher Wärme. Das muß gar nicht Sex<br />

sein, da Sex ebenfalls etwas Soziales ist und anstrengt. Nein, ich muß<br />

meinen armen, vom Kommunizieren wirr gewordenen und heißgelaufenes<br />

Kopf auf eine wohlwollende, üppige, noch stramme weil junge Brust<br />

betten. Am liebsten ist es mir, die Frau schläft schon, und ich höre ihren<br />

ruhigen, gleichmäßigen Herzschlag. Das, nur das, zusammen mit <strong>der</strong><br />

warmen, gut durchbluteten Haut, dem nachtwarmen Körper unter <strong>der</strong><br />

gem<strong>eins</strong>amen Decke, beruhigt mich und macht das grelle, sinnlose,<br />

uferlose Geplapper und Geschnatter des Tages vergessen. Die vielen<br />

"<strong>Mein</strong>ungen", die keine sind, die ganze Verirrung und Fehlsteuerung eines<br />

jungen Menschen im Hoch- o<strong>der</strong> Spät- o<strong>der</strong> Postkapitalismus, diese<br />

ahnungslose Verzweiflung eines Gehirns ohne Bewußtsein. Welch ein<br />

Segen, wenn solch ein Geist endlich ruht und alles seinem<br />

gewissenhaften, unbeschädigten, ja blühenden Frauenkörper überläßt...<br />

Jedoch, es kam ja nicht dazu. Ich wurde am ersten Abend nach 14 1/2<br />

Stunden <strong>der</strong> charmantesten Konversation nervlich erschöpft und mental<br />

zugrundegerichtet abgeschoben, und am zweiten Tag wie<strong>der</strong>holte sich <strong>der</strong><br />

Ablauf. Auch am dritten. Ich zitterte schon, konnte keine Zigarette mehr<br />

halten, hatte brüllende Kopfschmerzen. Und wie das so ist, je<strong>der</strong> kennt<br />

das ja: Je länger das "reizende Verhältnis" körperloser Zugeneigtheit<br />

andauerte, desto unmöglicher wurde es, die aufgebaute physische<br />

Sperrmauer zu durchbrechen. Am Ende des siebenten Tages rief ich<br />

verzweifelt, nein, ich konnte es nur noch flüstern, nein, nur röcheln:<br />

"Wollen wir jetzt nicht zusammen ins Bett gehen?"<br />

Sie verstand nicht, was ich gesagt hatte. Ich glaube wirklich, sie zwang<br />

mich, den Satz zu wie<strong>der</strong>holen. Sie wich dann ruckartig einen <strong>halb</strong>en<br />

Meter zurück und drehte dabei ihr Gesicht weg, stand dann auf, stand<br />

dann da im Ra<strong>um</strong> auf ihren zwei strammen Beinen, irgendwie recht<br />

selbstbewußt. Sie sagte noch, obwohl sie gewiß fassungslos war: "Du...<br />

du m<strong>eins</strong>t... ob ich dich als Mann will?!" Sie sprach das Wort Mann so<br />

seltsam aus, wie Martin Luther es getan hätte, wenn er über Mann und<br />

Waib gepredigt hätte. Als ich "Ja" sagte, geschah das Schrecklichste, was<br />

ich je erlebt habe. Eva Maria bekam einen hysterischen Lachkrampf. Das<br />

schreibt sich so einfach dahin, aber in echt ist es furchtbar. Noch heute<br />

höre ich manchmal dieses gekreischte Lachen, <strong>nachts</strong>, wenn ich alleine<br />

wach liege... Damals, in dieser Nacht vom 19. <strong>Auf</strong> den 20. Jänner 1982,<br />

vor über 20 Jahren also, bewegte ich mich rückwärts und<br />

angstgeschüttelt aus dem Zimmer, <strong>der</strong> dunklen Treppe entgegen, die ich<br />

Etage für Etage nach unten stürzte, ohne Jacke und Mantel. <strong>Auf</strong> <strong>der</strong><br />

Plattform <strong>der</strong> ersten Etage erlitt ich den besagten Ausbruch von Epilepsie,<br />

den ich nicht weiter schil<strong>der</strong>n will, <strong>um</strong> den Leser nicht zu verschrecken.<br />

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