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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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man segeln" (Gustav, <strong>der</strong> Dr<strong>um</strong>mer). Das war zwar auf die Frage, wie er<br />

zu Sex mit Erwachsenen stehe, würde aber auch auf die an<strong>der</strong>e passen.<br />

>>>>ORIGINALTEXT<br />

Glückaufkampfbahn Gelsenkirchen, am Tag drei nach dem Ende des WM-<br />

Fiebers, dem Ausscheiden <strong>der</strong> deutschen Mannschaft. Woan<strong>der</strong>s sind die<br />

Leute wie<strong>der</strong> so muffig wie vorher, rollen die Fahnen ein, schimpfen auf<br />

die Politiker. Hier auf Schalke aber ist das ganze Jahr Fußball. Die<br />

deutsche Fußballreligion entstand in diesem Stadion, in dem heute Tokio<br />

Hotel spielt, eine ganz ähnliche Religion übrigens. Gem<strong>eins</strong>am ist das<br />

Schreien. Nur schreit <strong>der</strong> Fußballfan nur beim Tor, etwa beim legendären<br />

1:0 Kloses in <strong>der</strong> Nachspielzeit, als selbst die Kanzlerin jede Hemmung<br />

vergaß und wie<strong>der</strong> z<strong>um</strong> kleinen Mädchen wurde. Die Fans von Bill Kaulitz,<br />

dem charismatischen Sänger <strong>der</strong> Band, schreien immer. Viele Stunden vor<br />

dem Konzert, während dessen, und auch noch, wenn die Jungs längst im<br />

Bett liegen. Und in höchster Lautstärke. Für sie ist immer Tor. Immer die<br />

91.<br />

Minute, Odonkor flankt, Klose rutscht heran, Tor, Tor, Tor. Das Geräusch<br />

ist auch an<strong>der</strong>s. Das Schreien <strong>der</strong> Fans ist unmoduliert, we<strong>der</strong> weiblich<br />

noch männlich codiert, es kommt aus keinen geschlechtsspezifischen,<br />

h<strong>um</strong>anen Körpern, son<strong>der</strong>n direkt aus dem Wahnsinn. Frauen schreien so,<br />

wenn sie vor King Kong stehen. O<strong>der</strong> bestimmte Nagetiere, wenn <strong>der</strong><br />

Tsunami kommt.<br />

Die Tsunami heißt hier Tokio Hotel, und <strong>der</strong> Anmarschweg z<strong>um</strong> Stadion<br />

sieht auch wirklich so aus. Hun<strong>der</strong>te von Metern nur Verwüstung,<br />

liegengebliebene Rucksäcke, Decken, tausende Stofftiere, letzte<br />

Habseligkeiten von Menschen, die die ganze Nacht ausgeharrt haben, <strong>um</strong><br />

beim Einlaß möglichst nahe an die Band zu kommen. 38.000 Menschen<br />

faßt die legendäre alte Spielstätte des FC Schalke 04, ein dunkles<br />

Ungetüm mit Stahlträgern aus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> industriellen Revolution.<br />

Das Konzert ist restlos ausverkauft, selbst Schwerbehin<strong>der</strong>te werden nicht<br />

mehr hereingelassen. Nie zuvor hat Tokio Hotel vor so vielen Menschen<br />

gespielt.<br />

Erstaunlich, denn die Jungs haben praktisch erst eine CD aufgenommen,<br />

und das ist fast ein Jahr her. Seitdem koppeln sie die einzelnen Songs im<br />

Quartalstakt aus, je<strong>der</strong> schafft die Chartspitze. Erst Mitte August soll<br />

wirklich neues Material kommen. Dann gnade uns Gott.<br />

Daß die Konzerte so gut laufen, haben sich die Jungs hart erkämpft. Sie<br />

haben Deutschland mit einer beispiellosen Tournee überzeugt. Selbst wer<br />

die Musik nicht mag, muß heute zugeben, daß die Bühnenshow alles in<br />

den Schatten stellt, was seit den Beatles 1964 geboten wurde. Es ist das<br />

Gegenteil von dem, was sogenannte Casting Bands bieten. Das sind<br />

zusammengewürfelte Schauspieler-Combos, die auf Befehl Dieter Bohlens<br />

zu belangloser lalala-Musik die Lippen bewegen.<br />

Tokio Hotel ist die Antwort auf eine gewissenlose Jugendkultur-Industrie,<br />

die von alten Männern und Frauen gemacht wird und mit <strong>der</strong> Realität von<br />

Jugendlichen nur eines zu tun hat: dass die Eltern zahlen. Für Handy-<br />

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