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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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passen. Das war seine Begriffswelt. Er nickte bedächtig. Erstmal<br />

einen tiefen Zug aus dem Joint. Ein guter Moment für mich, auf<br />

meine eigene Freundin zu sprechen zu kommen:<br />

„Und jetzt sollten wir doch mal Judith Bröhl anrufen, nicht?“<br />

Er reagierte nicht. Für ihn war Judith Bröhl nicht existent. Eine<br />

Unperson. Ein Wesen, welches in jedem Satz die Worte ‚verfickt‘,<br />

‚verpisst‘, ‚verkackt‘ und ‚am Arsch vorbei‘ unterbrachte. Die<br />

wollte er nicht bei den Gettys unterbringen, <strong>der</strong> reichsten Familie<br />

Amerikas. Er schwieg, als hätte er nichts gehört.<br />

Ich verstand ihn ja. Amerika war das Land <strong>der</strong> Übergewichtigen,<br />

<strong>der</strong> Proleten, <strong>der</strong> Tatoo-Piercing-Trucker-Machos, <strong>der</strong> Leute, die<br />

‚Dismissed‘ erfunden hatten und unser Unterschichten-TV bis hin<br />

zu RTL und Stefan Raab erst möglich gemacht hatten. So eine<br />

feine Familie wie die Gettys sehnte sich nach Europa, nach dem<br />

Gegenteil von Amerika, nach Vornehmheit und elaborierter<br />

Sprache. So eine vermeintliche Arsch-und-Titten-Karikatur wie<br />

meine Freundin konnten sie leicht als Ausrutscher mißverstehen.<br />

Als hätte da jemand beim Ausflug ins Rotlichtmilieu etwas<br />

falschverstanden. O<strong>der</strong> das christlichen Gebot, am Heiligen Abend<br />

etwas für die Armen und Gefallenen zu tun, zu ernst genommen.<br />

Das war fatal. Denn Judith Bröhl war keine Prostituierte. Sie war<br />

Marylin Monroe. Vermutlich mit denselben Problemen.<br />

Aber, <strong>um</strong> ehrlich zu sein, berührte es mich nicht. Ich war kein guter<br />

Freund. Das Schicksal meiner Freundin interessierte mich in dieser<br />

Stunde ka<strong>um</strong>, o<strong>der</strong> <strong>um</strong> es in ihrer Sprache zu sagen: ging mir am<br />

Arsch vorbei. Und DAS wurde mir in den folgenden Tagen z<strong>um</strong><br />

Verhängnis. Aber ich will nicht vorgreifen. Nein, ich dachte in<br />

diesem Moment wie<strong>der</strong> nur an Tom K<strong>um</strong>mer und meine Reportage<br />

über den Bor<strong>der</strong>line Journalismus. Ich ließ Elias bei ihm anrufen und<br />

auf die Mailbox sprechen. Ich stellte mir vor, wie K<strong>um</strong>mer neben<br />

seinem Anrufbeantworter sass und wie ich hörte, was Elias gerade<br />

sagte. Natürlich nahm er nicht ab, son<strong>der</strong>n starrte mit Angstaugen<br />

auf das Gerät und überlegte fieberhaft, wer ihm da an den Kragen<br />

wollte. Und irgendwie hatte er ja recht. Würde ich ihn endlich<br />

kriegen, würde ich ihn in Grund und Boden schreiben, diesen<br />

unredlichen Kerl, o<strong>der</strong> wie Judith Bröhl viel treffen<strong>der</strong> sagen würde:<br />

diesen Wichser. Wobei ich allerdings zuerst auf seine Verdienste<br />

zu sprechen kommen müßte. Die hatte er ja zweifellos. Er hatte<br />

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