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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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Ich will zu meinem Thema kommen, also für die anwesenden Redakteure<br />

und Medienberufler. Wie habe ich so alt werden können, wohin geht die<br />

Literatur, was passiert nach dem Urteil im Fall Maxim Billers und seines<br />

verbotenen Romans ‚ESRA’ mir <strong>der</strong> manchmal Popliteratur genannten<br />

Schreibweise? Wie wir alle wissen, habe ich immer das geschrieben, was<br />

ich direkt erlebt habe. Da das alle Schreibenden mehr o<strong>der</strong> weniger so<br />

tun, lag es bei mir an dem mehr. O<strong>der</strong> lag es daran, dass ich mehr erlebte<br />

als an<strong>der</strong>e? Wie man in <strong>der</strong> heutigen Ausgabe <strong>der</strong> Berliner Zeitung<br />

nachlesen kann, bin ich <strong>der</strong> <strong>Mein</strong>ung, dass alte Leute nichts mehr<br />

erleben und daher auch nichts aufzuschreiben haben. Schon des<strong>halb</strong> ist es<br />

bei mir mit <strong>der</strong> Popliteratur vorbei. An ihre Stelle tritt nun die sogenannte<br />

neue ernsthafte Literatur, von mir auch Die Neue Ernsthaftigkeit genannt.<br />

In meinem ersten Roman nach dem Tag X, also nach dem 20. Juli 2003,<br />

werde ich mich in einer unbekannten o<strong>der</strong> z<strong>um</strong>indest absolut<br />

bedeutungslosen ostdeutschen Hafenstadt, nämlich Rostock, <strong>um</strong> all jene<br />

kümmern, die in ihrem Leben das Wort Rainald Goetz o<strong>der</strong> Christian<br />

Kracht noch nie gehört haben. Apropo diese beiden Namen:<br />

<strong>Mein</strong> Abschied von <strong>der</strong> Popliteratur ist natürlich auch ein ganz spezifischer<br />

Abschied von den Popliteraten, den prominenten Popautoren <strong>der</strong> letzten<br />

beiden Dekaden,. Um die Popliteratur zu verteidigen, habe ich<br />

gebetsmühlenartig gerade in den letzten Jahren ihre angegriffenen<br />

Vertreter verteidigt. Da es niemanden gab, in den vielen Gesprächsrunden<br />

auf Partys, bei Freunden, in den Zeitungen, die diesen Job ausführten,<br />

habe ich es getan. Tex Rubinowitz meinte gestern in diesem seinen Lokal<br />

‚White trash’ in <strong>der</strong> Torstraße, linkerhand neben mir sitzend, Herta Feiler<br />

die Hand haltend, meine Lobrede auf Maxim Biller in <strong>der</strong> taz<br />

letzte Woche sei ein Kotau gewesen. Das stimmt und stimmt nicht. Denn<br />

inhaltlich meinte ich alles so, wie es da stand. Also dass Menschen über<br />

das schreiben dürfen sollen, was sie wirklich <strong>um</strong>treibt. Und wenn das eine<br />

furchtbare, unerfüllte, gemeine, gemein machende Liebe ist, ein<br />

Liebeskrieg, muss es eben das sein, worüber er schreibt. Das soll ihm<br />

dann nicht aus Persönlichkeitsschutzgründen untersagt sein. Wir stehen<br />

gesellschaftlich-kulturell gerade vor einer drohenden Zäsur auf diesem<br />

Gebiet. Es macht sich in breitesten Kreisen, selbst gerade bei Bild Lesern<br />

und Leuten, die sogenannte Spieler-Interviews in Sportsendungen sehen,<br />

die <strong>Mein</strong>ung breit, alle Menschen sollten ihr Recht auf die<br />

Privatsphäre härter – also mit neuen Gesetzen – durchsetzen können.<br />

Auch und sogar ein x-beliebiger Fußballspieler, z<strong>um</strong> Beispiel Manuel Frings<br />

vom SV Wer<strong>der</strong> Bremen, soll einen Reporter, <strong>der</strong> sein Kind fotografiert,<br />

belangen dürfen. Denn das Kind kann ja entführt werden, wenn es erstmal<br />

in <strong>der</strong> Zeitung steht o<strong>der</strong> so, und überhaupt geht die Privastsphäre ja<br />

niemanden was an. Und Dieter Bohlen soll nicht mehr schreiben dürfen,<br />

dass Naddel morgens die Zähne nicht putzt. Und Effenberg erst und so<br />

weiter. Schluß mit Gossip! Und Schriftsteller sollen nicht mehr über real<br />

existierende Nachbarinnen schreiben und was die anhaben und<br />

wie <strong>der</strong> Sex mit denen ist, son<strong>der</strong>n das soll jetzt endlich anständig<br />

untersagt werden dürfen. Die Schriftsteller sollen sich jetzt alles wie<strong>der</strong><br />

vollkommen ausdenken und ihre Geschichten im tra<strong>um</strong>losen<br />

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