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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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toten Mutter spricht. Botschaft: alle Menschen sind allein. Nächste<br />

Einstellung: Friedhof, mitten in <strong>der</strong> Wüste. Unklar, was das soll. Dann <strong>der</strong><br />

Filmset, es wird ja im Film ein Film gedreht. Alle Leute dort sind viel zu<br />

alt. Irgendein alter Darsteller aus <strong>der</strong> Ur-Soap 'Dallas' mimt den Regisseur<br />

und befehligt 70jährige Scriptgirls. Auch <strong>der</strong> Hauptdarsteller Sam<br />

Shephard spielt einen über 60jährigen, <strong>der</strong> bei seiner über 80jährigen<br />

Mutter wohnt (Eve Marie Saint, zuletzt 1957 in 'Der Fremde im Zug'<br />

aufgefallen). Ja, das liebt Wim: Schauspielerinnen, die er mit zehn<br />

bewun<strong>der</strong>te, in seine Filme zu holen. Und in Autos zu setzen, die er als<br />

Wiking Modelle damals sammelte. Und es gibt befreundete Journalisten,<br />

die diese ausgrabenen Frauen dann auf vier Heftseiten interviewen, mit<br />

nachrichtlich so wertvollen Informationen wie "früher war alles an<strong>der</strong>s".<br />

Journalisten, die mit Wen<strong>der</strong>s nicht befreundet sind, gibt es nicht.<br />

Diese Filme haben immer Überlänge. Das soll beweisen, daß sie sich nicht<br />

<strong>der</strong> Norm beugen. 'Im Laufe <strong>der</strong> Zeit' brachte es auf 187 Minuten,<br />

subjektiv gefühlte Überstunden sind es auch diesmal. Ray Coo<strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />

wer das ist zupft weiter seine Schnarchmusik wie anno daz<strong>um</strong>al. Der Held<br />

kehrt in sein Kin<strong>der</strong>zimmer zurück, das seine Mutter 40 Jahre lang nicht<br />

<strong>um</strong> einen Millimeter verrückt hat. Und wo das alles ist? Natürlich in Las<br />

Vegas!<br />

Nun geht's los. Glückspiel, Saufen, Cowboyhut - er läßt den Proleten raus.<br />

Aber immer noch absolut wortkarg, verbittert, eben <strong>der</strong> GuLag-<br />

Heimkehrer im hessischen Dorf. Er spielt mit den Automaten wie ein<br />

vernachlässigtes Schlüsselkind, und genau dieses Niveau hat er auch.<br />

Schon nach dem ersten Bier wird er voll doof, randaliert, krakeelt, wird<br />

von <strong>der</strong> Polizei festgenommen. Die hun<strong>der</strong>tjährige Mama holt ihn raus.<br />

Zeigt uns Wen<strong>der</strong>s ungewollt aber verdienstvoll die kommende 'zombie<br />

nation'? Wo Leute im Rentenalter sich wie Kin<strong>der</strong> gebärden? Und Eltern<br />

haben, die einfach nicht mehr sterben, son<strong>der</strong>n ihre Rolle weiter<br />

durchziehen wie resolute Mittdreißiger?<br />

Als nächstes und unvermeidlich zur Zeit: das Rührstück vom<br />

wie<strong>der</strong>gefundenen Kind. Sam Shepards Mom erzählt ihm, daß er einen<br />

erwachsenen Sohn hat. Den sucht er nun, den findet er nun. Produkt<br />

eines Boris-Becker-Quickies in <strong>der</strong> Wäschekammer. Der Sohn dreht durch,<br />

war<strong>um</strong>, wird nicht begreiflich. Vor allem: war<strong>um</strong> er SO LANGE durchdreht.<br />

Gute 60 Filmminuten lang. Und seine Wäschekammer-Mutti gleich mit. Als<br />

Shepard ihr einen nachträglichen Heiratsantrag macht, legt sie eine<br />

viertelstündige Schrei-Arie hin, die z<strong>um</strong> Wi<strong>der</strong>lichsten und Unsinnigsten<br />

<strong>der</strong> Filmgeschichte gehört, und für den sie sicher eine Oskar-Nominierung<br />

erhalten wird. Journalisten mögen Wim Wen<strong>der</strong>s.<br />

Doch <strong>der</strong> Gerontokratenfilm ist immer noch nicht zuende. Shepard tuckert<br />

mit einem 1951er Chevrolet ohne alle Gebrauchsspuren durch ein<br />

Amerika, das nichts weiß von <strong>der</strong> enormen Dynamik, in <strong>der</strong> es steckt.<br />

Nicht Angelina Jolie becirct den Helden, son<strong>der</strong>n ein verspäteter<br />

Seventies-Punk-Klon aus Herne in Westfalen. Nicht Jonathan Franzen<br />

inspiriert ihn, eher Wolfgang Borchert. Und natürlich ist <strong>der</strong><br />

wie<strong>der</strong>gefundene Sohn Rock-Sänger und spielt die Musik von Bill Haley.<br />

Zwischendurch schläft Shepard - richtig, <strong>der</strong> Alte - mit drei Teenage Girls<br />

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