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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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nicht die Medien, haben mitgekriegt, daß es sich <strong>um</strong> die bisher schärfte<br />

Medienschelte eines führenden Politikers handelte. Schrö<strong>der</strong> führte den<br />

Begriff des 'Politiker Bashings' ein. Sinngemäß sagte er, das in<br />

Deutschland zunehmend beliebte 'Politiker Bashing', also das blinde<br />

Einschlagen <strong>der</strong> Medien auf die Politiker, werde die Demokratie ruinieren.<br />

Wörtlich: "Solche, die es angeht, müssen wissen, daß am Ende dieses<br />

Weges nicht mehr Demokratie steht, son<strong>der</strong>n deutlich weniger." Er bezog<br />

sich also nicht ausdrücklich auf die Medien - das Wort fiel nicht - und<br />

verließ sich darauf, dass "solche, die es angeht" schon richtig verstanden<br />

würde. In <strong>der</strong> 'Tagesschau' wurde dann prompt berichtet, irgendwelche<br />

parteiinternen Kritiker seien gemeint gewesen. In <strong>der</strong> 'Tagesschau' liest<br />

man wohl keine Zeitungen.<br />

Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> morgens die Bild Zeitung aufschlägt, findet die ersten drei<br />

Seiten vollgekleistert mit wüster Pöbelei gegen 'die Politiker'. Es ist<br />

offenbar die neue (alte?) Volksreligion, denn das Blatt handelt nicht finster<br />

verschwörerisch, son<strong>der</strong>n macht damit <strong>Auf</strong>lage, trifft die Seele des Volkes.<br />

Bis zur Wahl am 18. September waren natürlicherweise die regierenden<br />

Rotgrünen 'die Politiker', die als Lügner, Betrüger, Abzocker, Abkassierer,<br />

Egoisten, Schwätzer, Faulenzer, Falschmünzer, Schmarotzer und so weiter<br />

an den Pranger gestellt wurden, immer nach <strong>der</strong> Leier 'Sie predigen<br />

Wasser und trinken Wein'. Es handelte sich ganz offensichtlich <strong>um</strong> DAS<br />

Feindbild <strong>der</strong> Deutschen, und die Monomanie und Häufigkeit, mit <strong>der</strong> diese<br />

kleine Gruppe <strong>der</strong> Gesellschaft attackiert wurde, erinnerte z<strong>um</strong>indest mich<br />

durchaus an die bekloppte Besessenheit, mit <strong>der</strong> etwa die Zeitschrift 'Der<br />

Stürmer' das damalige Feindbild 'Die Juden' immer und immer wie<strong>der</strong> z<strong>um</strong><br />

nicht vorhandenen Thema machte. Nun soll man in Deutschland ja solche<br />

Vergleiche nicht anstellen, und ich nehme ihn auch sofort zurück. Ich<br />

sagte nur, es 'erinnerte' mich daran. Und wenn die Erinnerung erst einmal<br />

anfängt, ist sie nicht zu stoppen: Ist <strong>der</strong> Haß auf die demokratisch<br />

gewählten Politiker, auf die Demokratie, auf das Parlament und den<br />

<strong>Mein</strong>ungsstreit nicht überhaupt das konstituierende Element des<br />

deutschen Wesens? Beispiele dafür gäbe es ohne Ende, drei kurze seien<br />

genannt: Kaiser Wilhelms "Ich kenne keine Parteien mehr" löste schon<br />

1914 grenzenlosen Jubel aus. Hitlers Siegeszug verdankte sich einer<br />

täglichen Hetze gegen 'die Schwatzbude', die er 'dichtmachen' wollte, das<br />

Parlament. Die 68er polemisierten eine Generation später vor allem gegen<br />

'das System' und übernahmen damit denselben Begriff, <strong>der</strong> auch den<br />

Nazis schon alles bezeichnete, was mit Demokratie zu tun hatte, von<br />

'Novemberverbrecher' bis 'Handlanger des Kapitals'. Als ich gestern abend<br />

den Taxifahrer in Köln auf dem Weg z<strong>um</strong> Hauptbahnhof fragte, was er von<br />

<strong>der</strong> Großen Koalition hielte, sah ich in seiner prompten Antwort, daß<br />

dieses Volk nie unpolitisch ist, aber immer demokratiefeindlich. Seine<br />

leicht kölschhaltigen, versoffenen Sätze waren für mich wie akustische<br />

Bild Zeitung, wie rheinische 'Post von Wagner': "Die reden ja viel, aber<br />

solange das Grundproblem des deutschen Volkes nicht angesprochen wird,<br />

än<strong>der</strong>t sich da gar nichts." Ich fragte, was das sei. Er drehte sich<br />

verwun<strong>der</strong>t <strong>um</strong>, sein langer Schnauzbart wippte: "Das ist, dass die<br />

Politiker die ganzen Milliarden in die eigene Tasche <strong>um</strong>leiten!"<br />

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