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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein ...

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mal hergestellt wurde? Reaktorbrennstäbe? Die Ordner haben sie direkt<br />

vom letzten Nazifilm übernommen, o<strong>der</strong> vom Rammstein-Konzert: riesige,<br />

fette Fleischmassenkörper, schwarze T-Shirts mit Runen-<strong>Auf</strong>schrift,<br />

glänzende Glatzen. Die Roadies von den Strokes sehen allerdings ka<strong>um</strong><br />

an<strong>der</strong>s aus, haben nur schwarze Hautfarbe. Inmitten dieser Hölle ein mit<br />

Absperrgitter isolierter Bereich für die Band, gewissermaßen die Bühne.<br />

Hier steht die Technik <strong>der</strong> globalen Superband, selbst im Dunklen<br />

funkelnd, wirklich vom F<strong>eins</strong>ten, wie die Ausstellungshalle eines edlen<br />

Oldie Autosalons: Fahrbare Metallschränke, verchromte Verstärker,<br />

Kabelkaskaden, Ra<strong>um</strong>schiff-Mischpulte, E-Gitarren, Zubehör aus Silber<br />

und Platin. Ab und zu blitzt eine Taschenlampe auf, weil ein Techniker<br />

noch etwas nachjustiert. Die Fans sehen nett aus. Auch bei ihnen herrscht<br />

erkennbar ein gänzlich an<strong>der</strong>er dress code als im MTV-Bereich. Undenkbar<br />

dass ein Mädchen bauchfrei daherkäme o<strong>der</strong> sonstwie auf Schlampe<br />

machte. Gedeckte Farben, man raucht nicht, man trinkt Kaffee. Velvet<br />

Un<strong>der</strong>ground spielt auf bei <strong>der</strong> Jungen Union, sozusagen. Also hätte man<br />

früher gesagt. Aber heute ist nicht früher. Hier steht nicht die<br />

Schülermitverwaltung seliger westdeutscher Zeiten, son<strong>der</strong>n die<br />

neoliberale Avantgarde. Spießer sind jetzt die an<strong>der</strong>en, die Linken. Wer<br />

rechts ist, ist cool und hört The Strokes.<br />

Das <strong>Auf</strong>fallendste, nein das Wichtigste an <strong>der</strong> Band ist das Jungenhafte,<br />

Nichtmännliche, sind die dünnen femininen Körper <strong>der</strong> fünf Knaben. Wehe,<br />

einer würde plötzlich dick! Aber davor schützen ja gottlob schon die<br />

Drogen, dafür sind sie ja da. "Dasselbe Outfit hat Julian schon in<br />

Australien getragen!" sagt ein Fan neben mir, eine Schülerin, offenbar<br />

wohlhabend. Ja, da sind sie, die Hübschen: dunkelgrüne sixties<br />

Cordjacketts, Streifenpullis, <strong>der</strong> Leadsänger und Stückeschreiber Julien<br />

Casablanca in selbstgenähter Kapitänsuniform. Ihre Bewegungen sind von<br />

<strong>der</strong> ersten Sekunde an sexy, weil minimalistisch, androgyn und vor allem<br />

unendlich selbstsicher. So lässig eben. Denen macht keiner was vor. Die<br />

müssen niemandem etwas beweisen. Die Presse ist ihnen egal. Die Fans<br />

auch. Al Green auch, <strong>der</strong> keinen back stage Pass bekommen hat und<br />

direkt neben uns am Gitter klebt und die Arme hochreißt. Vielleicht spielen<br />

sie für Kate Moss, für Pete Doherty, für das seltsam große, ernste<br />

Francoise-Hardy-Mädchen inner<strong>halb</strong> <strong>der</strong> Absperrung, dieses deutlich<br />

priviligierte Groupie, sicher die Ehefrau des Bandchefs, vielleicht auch nur<br />

für Dostojewski. Wer weiß. Die Musik reißt jedenfalls total mit. "Besser als<br />

die ersten beiden Alben", weiß besagter weiblicher Fan neben mir. Sie liest<br />

INTRO, den NME, hat Musik Express und VISIONS im Abo, liest Spex und<br />

an<strong>der</strong>e Fachzeitschriften in <strong>der</strong> Bibliothek. Sie kennt sich aus. Sie weiß,<br />

welche Bands gerade gehypt werden und welche davon wirklich gut sind,<br />

nämlich Arctic Monkees, Kaiser Chief, Block Party, Maximo Park und<br />

Razorlight. Alle haben ein bißchen die Strokes nachgemacht, aber nicht<br />

erreicht. Nicht dieses neue dritte Alb<strong>um</strong>!<br />

Es ist tatsächlich gute Laune im Publik<strong>um</strong>. Berlin ist schon die richtige<br />

Stadt für diese Knaben aus New York. Es macht diesen Jurastudenten<br />

nichts aus, einfach Pogo zu tanzen, <strong>eins</strong>t Ritual des Klassenfeindes. Und<br />

auch die Lie<strong>der</strong> klingen nun so, wie Schlachtgesänge, wie ausgelassen vor<br />

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