Drucksache 14/9852 – 34 – Deutscher B<strong>und</strong>estag – 14. Wahlperiodenoch Tabelle 2-3Indikatorart Lebensraum in Deutschland Bestandsentwicklung <strong>und</strong> ihre Ursachen in DeutschlandBläss- <strong>und</strong>SaatgansSeeh<strong>und</strong>Rastvögel in Deutschland;Schlafplätze auf Salzgrünlandan der Küste, größeren Binnengewässern,Überschwemmungsflächender Flussniederungen,Marschen; Rast- <strong>und</strong>Nahrungsflächen auch aufGrünland- <strong>und</strong> AckerflächenKüstenmeer der Nord- <strong>und</strong>Ostsee, Wattenmeer <strong>und</strong>Sandbänke, insbesondere inNähe von FlussmündungenMitte <strong>des</strong> 19. Jh. bis 1960er-Jahre: Abnahme der Rastvogelbeständein Deutschland; seitdem zunehmende Bedeutung der Durchzugs-<strong>und</strong> Überwinterungsgebiete in Deutschland für <strong>eine</strong>n Großteil<strong>des</strong> westeuropäischen Bestan<strong>des</strong>; Ursache für die Bestandsrückgänge:Lebensraumverluste durch Melioration, Flächeninanspruchnahme<strong>und</strong> Intensivierung der Landwirtschaft, Ursachen fürdie Wiederzunahme: innereuropäische Verlagerung von ÜberwinterungsschwerpunktenBestände sind aufgr<strong>und</strong> der Jagd bis Anfang der 1970er-Jahre starkzurückgegangen, seit Einstellung der Bejagung in den 1970er-Jahrenständiger Wiederanstieg der Bestände mit <strong>eine</strong>m dramatischen Einbruchaufgr<strong>und</strong> <strong>eine</strong>r Seuche 1988, verursacht durch <strong>eine</strong> Schwächung<strong>des</strong> Immunsystems durch Schadstoffbelastung <strong>und</strong> den Ausbruch<strong>eine</strong>r VireninfektionSRU/SG 2002/Tab. 2-3Datenquellen: BAUER <strong>und</strong> BERTHOLD, 1997; BEZZEL, 1985; B<strong>und</strong>esregierung 2002, S. 102 f.; CORBET <strong>und</strong> OVENDEN, 1987; FLADE, 1994;FLORE, 1997; HEERS, 1999; MOOIJ, 2000Bei den meisten ausgewählten Arten ist die Indikatorfunktioneingeschränkt. Gut geeignete Indikatorartensind der Schwarzstorch <strong>und</strong> der Rotmilan (s. Tabelle 2-3).Wenig bis gar nicht geeignet als Indikatorarten sind hingegenalle anderen Arten, deren Populationsgrößen kaumRückschlüsse auf die Qualität der von ihnen genutztenLebensräume oder das Vorkommen <strong>und</strong> die Lebensfähigkeitanderer Pflanzen- oder Tierarten zulassen. AndereFaktoren (s. Tabelle 2-3, Spalte 3), wie direkte Schutzmaßnahmenfür Seeregenpfeifer <strong>und</strong> Zwergseeschwalbe,Auswilderungs- <strong>und</strong> Schutzmaßnahmen beim Weißstorch,das Profitieren von der allgem<strong>eine</strong>n Eutrophierungder Landschaft beim Seeadler <strong>und</strong> Weißstorch, negativeEinflüsse während <strong>des</strong> Vogelzuges beimSchreiadler, Einflüsse in den Brutgebieten bei der RastvogelartAlpenstrandläufer, die Verlagerung der Überwinterungsgebieteinnerhalb Europas bei Saat- <strong>und</strong> Blässgansoder das Jagdverbot beim Seeh<strong>und</strong>, spielen für diePopulationsentwicklung der jeweiligen Indikatorart <strong>eine</strong>wesentlich wichtigere Rolle als <strong>eine</strong> Veränderung ihrerLebensräume in Deutschland, die auch für viele anderegefährdete Arten Auswirkungen hätte. Die Indikatorfunktionder meisten im Artenindex aufgeführten Artenist daher beschränkt. Alle Arten sind aber zugleich bedeutsameZielarten <strong>des</strong> <strong>Naturschutzes</strong>. Ihre Seltenheit<strong>und</strong> Gefährdung ist so hoch, dass <strong>eine</strong> Beobachtung derweiteren Bestandsentwicklung dieser Arten unabhängigvon ihrer Indikatorfunktion von großer Wichtigkeit ist.Der Schreiadler, <strong>des</strong>sen Brutareal sich auf Europa beschränkt<strong>und</strong> der in Deutschland nach der deutschen RotenListe stark gefährdet ist, tritt im Hinblick auf <strong>eine</strong>weltweite Gefährdung besonders hervor (vgl. FLADE,1999; WITT et al., 1998).Darüber hinaus ist gr<strong>und</strong>sätzlich anzumerken, dass zehnVogelarten <strong>und</strong> <strong>eine</strong> Säugetierart k<strong>eine</strong>sfalls zwangsläufigdie Entwicklung gefährdeter Pflanzenarten oder -gesellschaftenoder anderer Tiergruppen abbilden (s. dazu u. a.KRIEGBAUM, 1999). Ein für einige Vogelarten positives,reiches Nahrungsangebot aufgr<strong>und</strong> von zunehmenderEutrophierung der Landschaft, wie z. B. für den Seeadleroder die Saat- <strong>und</strong> Blässgans, ist für viele empfindlichePflanzenarten wie die Seekanne, aber auch andere Vogelartenwie den Raubwürger <strong>und</strong> Wendehals ein Gefährdungsfaktor(vgl. u. a. HÖTKER et al., 2000, S. 337).54. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Artenindex derNachhaltigkeitsstrategie mit den derzeit ausgewählten Artendie angestrebte repräsentative Abbildung der Biodiversitätsentwicklung<strong>und</strong> der Veränderung der wichtigenLebensraumtypen in Deutschland nicht leisten kann. Die inder Nachhaltigkeitsstrategie angekündigte Erweiterung derIndikatorarten sollte sich nicht nur auf wenige zusätzlicheArten beziehen, sondern deutlich erhöht werden, um einaussagekräftigeres Bild zu liefern. Dies war bereits beimAnsatz zur Entwicklung <strong>eine</strong>s „100-Arten-Korbes“(BÜRGER <strong>und</strong> DRÖSCHMEISTER, 2001, S. 52;SCHLUMPRECHT et al., 2000) vorgesehen. Insbesonderesollten als Indikatorarten weniger stark gefährdete Arten,wie z. B. das Rebhuhn, <strong>und</strong> weiter verbreitete Arten, wiez. B. die Goldammer, berücksichtigt werden, um die Entwicklungin den intensiver genutzten Kulturlandschaftenbeurteilen zu können. Sehr wichtig ist außerdem die Ergänzung<strong>des</strong> Indikatorenansatzes durch <strong>eine</strong> Bilanzierungder Veränderungen bei den Roten Listen. Damit kann durch<strong>eine</strong>n Index die Veränderung der Situation bereits derzeitgefährdeter Arten bzw. von Neuzugängen ausgedrücktwerden (Tz. 372 ff.). In einigen anderen Ländern existierenbereits gut ausgebaute entsprechende Dokumentationssysteme.Beispielhafte Ansätze sind die umfassende Beobachtungder Arten in der Schweiz (HINTERMANN <strong>und</strong>WEBER AG, 1999), <strong>eine</strong> Artenbeobachtung mit ca. 140 Artenin Großbritannien (Countryside Survey, UK), die Umwelt-<strong>und</strong> Naturqualitätsbeobachtung in den Niederlanden
Deutscher B<strong>und</strong>estag – 14. Wahlperiode – 35 – Drucksache 14/9852(Centraalbureau voor Statistiek, NL), das Naturschutzmonitoringin Schweden <strong>und</strong> Norwegen <strong>und</strong> der Artenindexin Niedersachsen (dort beschränkt auf 25 Vogelartenfür den Zustandsindikator <strong>und</strong> 19 Arten für den Maßnahmenindikator,SCHLUMPRECHT et al., 2001). Die derzeitin die Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen Arten könnenzwar als so genannte Flaggschiffarten dazu dienen, denInhalt <strong>eine</strong>s komplexeren Arten- <strong>und</strong> Biotopindexes für<strong>eine</strong> breite Öffentlichkeit anschaulich zu machen. Im Hintergr<strong>und</strong>sollte jedoch <strong>eine</strong> sehr viel breitere Informationsbasisvorhanden sein, wenn den Aussagen der Nachhaltigkeitsstrategiein diesem Punkt mehr als ein symbolischerWert zukommen soll.55. Aus Naturschutzsicht unbefriedigend sind die Zieleder deutschen Nachhaltigkeitsstrategie im Verkehrsbereich.Es wird k<strong>eine</strong> Reduzierung der absoluten Verkehrsmengenangestrebt, sondern lediglich die Senkung derTransportintensität (vgl. Tabelle 2-1). Damit sind weitereZerschneidungen der Landschaft vorprogrammiert. Dasaus Naturschutzsicht hochrangige Ziel <strong>eine</strong>r Erhaltung derverbliebenen unzerschnittenen Räume wird dadurch konterkariert.Derzeit können nur noch 15 % der FlächeDeutschlands als unzerschnitten, d. h. überhaupt nicht vonStraßen mit mehr als 1 000 Kraftfahrzeuge pro Tag zerschnitten,gelten (GLAWAK, 2001, S. 482). Nur auf diesemgeringen Flächenanteil sind also noch weitgehend ungehinderteökosystemare Austauschprozesse möglich. DieIntegration von Naturschutzgesichtspunkten in die Zielezur Verkehrspolitik in der Nachhaltigkeitsstrategie wäredaher von besonderer Wichtigkeit.56. Das ebenfalls naturschutzrelevante Ziel der Ausweitung<strong>des</strong> Ökolandbaus ist sehr zu begrüßen. Gleichwohldarf nicht vergessen werden, dass es nicht flächendeckendwirksam wird <strong>und</strong> dass auch der ökologische Landbauallein nicht genügt, um ausreichende Verbesserungen hinsichtlich<strong>des</strong> Gr<strong>und</strong>wasserschutzes in empfindlichen Räumenzu bewirken <strong>und</strong> spezielle Arten- <strong>und</strong> Biotopschutzzielezu verfolgen. Dieses gilt auch für das Ziel <strong>eine</strong>rflächendeckenden Begrenzung <strong>des</strong> Stickstoffüberschussesbis zum Jahre 2010 auf jährlich 80 kg pro ha. Das Zielweist in die richtige Richtung; s<strong>eine</strong> Umsetzung wird in einigenRäumen erhebliche Anstrengungen erfordern. <strong>Für</strong>Räume mit eintragsgefährdeten Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Oberflächengewässernoder empfindlichen Biotopen müssen abergr<strong>und</strong>sätzlich weitergehende Ziele formuliert werden,z. B. im Hinblick auf die Stickstoffbilanz, den Pflanzenschutz<strong>und</strong> die Immissionen von Schwermetallen.57. Ein weiteres naturschutzrelevantes Qualitätsziel beziehtsich auf die anzustrebende Qualität der Oberflächengewässer.In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen,dass aus Naturschutzsicht die Gefahr besteht, dasssich zukünftige Anstrengungen zur Erfüllung der Kriteriender EG-Wasserrahmenrichtlinie vor allem auf die Sanierungder derzeit stark belasteten <strong>und</strong> in ihrer Struktur starkgeschädigten Gewässer konzentrieren werden <strong>und</strong> die Erhaltungvon Gewässern mit sehr guter Qualität sowie dieEntwicklung geeigneter Abschnitte der Gewässer guterQualität in den Hintergr<strong>und</strong> treten wird. Gerade in Gewässernmit guter bis sehr guter Wasserqualität <strong>und</strong> mit <strong>eine</strong>mhohen Strukturreichtum ist aber ein Großteil der gefährdetenGewässerflora <strong>und</strong> -fauna beheimatet.58. Die Nachhaltigkeitsstrategie kann notwendigerweiseNaturschutzziele nur hoch aggregiert erfassen. Der Umweltratempfiehlt daher, sie um <strong>eine</strong> entsprechend differenziertenationale Naturschutzstrategie zu ergänzen.Diese kann als <strong>eine</strong> Ausgestaltung <strong>und</strong> Weiterentwicklungder Nachhaltigkeitsstrategie in <strong>eine</strong>m ihrer zentralen Bereicheverstanden werden <strong>und</strong> ihrerseits wiederum <strong>eine</strong>Biodiversitätsstrategie umfassen. Die prioritären Handlungsfelder<strong>eine</strong>r Naturschutzstrategie beziehen sich aufden Schutz repräsentativer Natur- <strong>und</strong> Kulturlandschaften,auf die Herbeiführung <strong>eine</strong>r Trendwende beim Rückgangder Arten <strong>und</strong> Lebensräume, auf die Bekämpfung von Bodenverlustenoder -schäden, auf die Erreichung der anzustrebendenQualität der Gr<strong>und</strong>wasserressourcen <strong>und</strong> derOberflächengewässer sowie auf den Erhalt der verbliebenenverkehrsarmen <strong>und</strong> unzerschnittenen Räume. Dasletzte Ziel umfasst nicht zuletzt auch die Erhaltung der Erholungsqualitätin größeren nicht verlärmten Gebieten fürden Menschen selbst. Es sollte gegenüber dem (in derRaumordnung nicht mehr verfolgten) Gr<strong>und</strong>satz <strong>eine</strong>r„gleichwertige[n] Erschließung aller Teilräume <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>“(B<strong>und</strong>esregierung, 2002, S. 192) Priorität genießen. Von derPraxis, Autobahnen gerade durch unzerschnittene Räume zuführen, in denen kein stärkerer Widerstand der Bevölkerungzu erwarten ist (EEA et al., 1998; ROTHENGATTER et al.,1996), sollte abgesehen werden.59. Der Umweltrat empfiehlt, aufbauend auf f<strong>und</strong>iertenAnalysen zum Zerschneidungsgrad der Landschaften(s. GLAWAK, 2001; JAEGER et al., 2001, S. 305), in Zukunftunzerschnittene Räume ab <strong>eine</strong>r Flächengröße von100 km² prioritär zu schützen. Hierzu sollten die entsprechendenRäume durch raumordnerische Ausweisungen geschützt<strong>und</strong> diese Darstellungen in die B<strong>und</strong>esverkehrswegeplanungintegriert werden. Entsprechende Ziele sind bereitsim Entwurf <strong>des</strong> letzten umweltpolitischen Schwerpunktprogrammsdiskutiert (BMU, 1998), aber danach nicht weiterverfolgt worden. Da in der Regel der Zerschneidungsgradmit der Bevölkerungsdichte in den B<strong>und</strong>esländern ansteigt(s. GLAWAK, 2001, S. 482), müssen mit der Verfolgung <strong>eine</strong>ssolchen Zieles nicht zwangsläufig Benachteiligungender derzeit geringer zerschnittenen <strong>und</strong> bevölkerungsärmerennordostdeutschen B<strong>und</strong>esländer einhergehen.2.2.2.2.2 Naturschutzrecht60. Die im B<strong>und</strong>esnaturschutzgesetz in den §§ 1 <strong>und</strong> 2vorgegebenen Leitprinzipien <strong>und</strong> allgem<strong>eine</strong>n Ziele eignensich sehr gut für <strong>eine</strong>n umfassenden Schutz <strong>des</strong> gesamtenNaturhaushaltes, der über <strong>eine</strong>n eng auf den Arten- <strong>und</strong>Biotopschutz bezogenen Ansatz weit hinausgeht (vgl.hierzu Kapitel 1; SRU, 2002; SRU, 1987, Tz. 356 f.). Esfehlen aber auch im B<strong>und</strong>esnaturschutzgesetz konkreteVorgaben, die <strong>eine</strong> Umsetzung der b<strong>und</strong>esrelevanten Naturschutzzielesicherstellen <strong>und</strong> <strong>eine</strong> einheitliche Handhabungin den Ländern fördern (vgl. Kapitel 5.2.7; s. SRU,2002, Kapitel 3.2.4). Solche konkreten Vorgaben ließensich bei richtiger Ausgestaltung mit dem Rahmencharakter<strong>des</strong> B<strong>und</strong>esnaturschutzgesetzes vereinbaren. Bislang sindsolche Bestrebungen aber vor allem an der mehrheitlichenAblehnung durch die Länder im B<strong>und</strong>esrat gescheitert.61. So sind die national verbindlichen Standards fürden Erhalt der biologischen Vielfalt noch unzureichend.