An der blauen Donau - Die Freiheitlichen in Wien
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1947–1956
„Mit Pawkowicz hätte es kein Knittelfeld gegeben“
Univ.-Prof. Dr. Lothar Höbelt im Gespräch über die Bedeutung
des Dritten Lagers im 19. und 20. Jahrhundert,
und die Zukunftsaussichten der FPÖ in Wien.
Wie hat sich das nationalliberale Lager in Wien in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt?
Lothar Höbelt: Das lässt sich schematisch
recht einfach charakterisieren: In den
böhmischen Ländern gab es die Tschechen als
nationalen Gegner, in den Alpenländern die
„Klerikalen“, den politischen Katholizismus. Beide
spielten in Wien und Umgebung keine oder
zumindest kaum eine Rolle. Das Resultat war:
Ohne äußeren Gegner wurde auf Teufel komm
raus untereinander gestritten. In der Großstadt
waren natürlich auch die sozialen Gegensätze am
ausgeprägtesten, zwischen dem noblen 1. Bezirk
als Heimstatt der Eliten und den sogenannten
„Vorstadtdemokraten“, dazu kam dann ab den
achtziger Jahren der Streit um den Antisemitismus.
Lueger hatte ja ursprünglich als Liberaler
am linken Flügel begonnen und dann erst mit
Schönerer und den „Klerikalen“ ein Bündnis
geschlossen. Die Nationalliberalen „in der Provinz“
haben dieses Theater in Wien großteils mit
Unverständnis und Entsetzen betrachtet.
Wo sehen Sie die Höhepunkte in dieser Zeit?
Höbelt: Der Höhepunkt – oder vielleicht
besser: der Tiefpunkt –
war um die Jahrhundertwende
die Polarisierung
zwischen den Resten der
sogenannten „Judenliberalen“
und Luegers
„Wurstkesselpartei“, wie
man „Populisten“ ohne
klares Programm damals
genannt hat. Als dann
das allgemeine und gleiche
Wahlrecht eingeführt
wurde, hatten weder die
Deutsche Fortschrittspartei
noch die Deutsche
Volkspartei – die beiden
Gruppierungen, die anderswo
das Lager trugen
- in Wien irgendeinen
Abgeordneten durchgebracht.
1911 gab es dann
einen auffälligen, aber
sehr kontroversen Erfolg:
Nach Luegers Tod
witterten alle seine Gegner
ihre Chance. Das alte
österreichische Wahlrecht
sah ja, wie heute in Frankreich,
Stichwahlen zwischen
den beiden bestplazierten
Kandidaten vor.
Während es der Regierung
überall sonst gelang,
ein Bündnis der beiden bürgerlichen Blöcke zu
vermitteln, kam es in Wien bei den Stichwahlen
zu einem Bündnis zwischen den freiheitlichen
Gruppen, von „Judenliberalen“ bis zu den Schönerianern,
mit den Sozialdemokraten. Im Tagebuch
Arthur Schnitzlers kann man nachlesen,
dass er damals für einen radikalen Antisemiten
stimmte – nur um Luegers Leuten eins auszuwischen.
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