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Von der Armuts- zur Wohlstandskriminalität, von Todes- und<br />
Gefängnisstrafen zu Geld- und Bewährungsstrafen – Kriminalität<br />
und Strafverfolgung unterliegen ebenso dem sozialen Wandel<br />
wie andere gesellschaftliche Phänomene. Während die Jugend<br />
scheinbar immer krimineller wurde, ging die tödliche Gewalt in<br />
Deutschland langfristig deutlich zurück. Historische Kriminalstatistiken<br />
können vieles über die Entwicklung sozialer Probleme<br />
und die gesellschaftlichen Reaktionen verraten.<br />
Keine Gesellschaft ist frei von sozialen Abweichungen und<br />
Regelverstößen, deren schwerwiegendste als Kriminalität<br />
definiert und verfolgt werden. Mit der Entstehung des modernen<br />
Verwaltungs- und Wohlfahrtsstaates in der ersten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen die Justizbehörden<br />
einiger deutscher Länder, nach französischem und englischem<br />
Vorbild systematische Kriminalstatistiken zu führen<br />
und zu veröffentlichen. 1 Für die Moralstatistiker des<br />
19. Jahrhunderts waren diese Kriminalstatistiken wichtige<br />
Datenquellen, um „Urtheile über den sittlichen Zustand des<br />
Volkes“ 2 zu fällen. Pioniere der Sozialstatistik wie der Belgier<br />
Adolphe Quetelet verwendeten Kriminalstatistiken, um eine<br />
Wissenschaft der „sozialen Physik“ zu etablieren und machten<br />
die Kriminalstatistik zu einem Übungsfeld der modernen<br />
Sozialwissenschaften.<br />
Das Besondere an der Kriminalstatistik ist jedoch, dass<br />
ihr Gegenstand naturgemäß im Verborgenen liegt und nur<br />
dann in das sogenannte „Hellfeld“ gelangt, wenn strafbare<br />
Handlungen entdeckt, angezeigt und von den Organen der<br />
staatlichen Strafrechtspflege registriert und sanktioniert werden.<br />
Während man dieses Problem im 19. Jahrhundert durch<br />
die Annahme „konstanter Verhältnisse“ zwischen der Gesamtsumme<br />
strafbarer Handlungen und der amtlich registrierten<br />
Kriminalität zu entschärfen versuchte, hat sich seit<br />
Beginn des 20. Jahrhunderts die Erkenntnis durchgesetzt,<br />
dass Kriminalstatistiken zunächst Arbeitsnachweise der<br />
staatlichen Strafverfolgungsorgane sind und sich nur bedingt<br />
als Indikatoren sozialer Problemlagen eignen. Kriminalsta-<br />
tistiken berichten also darüber, wie viele Delikte angezeigt<br />
und wie viele Personen wegen dieser Delikte mit welchen<br />
Sanktionen belegt wurden. Darüber hinaus ist Kriminalität<br />
kein naturgegebenes Phänomen, sondern abhängig von gesellschaftlich<br />
gesetzten Normen, deren Definition und Anwendung<br />
historisch wandelbar sind. Die historische Kriminalitätsforschung<br />
interessiert sich heute vorrangig für die soziale<br />
Konstruktion von Kriminalität und vernachlässigt<br />
dabei die historische Kriminalstatistik. Diese spiegelt jedoch<br />
beides wider: sozial abweichende und konfliktreiche Verhaltensformen<br />
und ebenso deren strafrechtliche Kontrolle. Mit<br />
sorgfältigen Interpretationen kann die historische Kriminalstatistik<br />
ihren Wert für die Analyse des gesellschaftlichen<br />
Wandels in Deutschland beweisen.<br />
Das System der deutschen Kriminalstatistik<br />
Das System der staatlichen Sozialkontrolle besteht aus mehreren<br />
Stufen, auf denen die zuständigen Organe Statistiken<br />
über ihre Tätigkeit produzieren. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts<br />
bildete die justizielle Statistik über von Strafgerichten<br />
verurteilte Personen das alleinige Rückgrat der<br />
Kriminalstatistik in Deutschland. Dass die Verurteilung<br />
bei nahe am Ende der Strafverfolgung steht und auf den vorherigen<br />
Stufen bereits sehr viele Fälle und Tatverdächtige<br />
ausgefiltert werden, wurde von den zeitgenössischen Experten<br />
in Kauf genommen, da man die richterliche Entscheidung<br />
als verlässlichste Grundlage eines „objektiven Tatbestandes“<br />
schätzte. 3<br />
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