Theologinnen 23 - Konvent evangelischer Theologinnen
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scheiden sich die Geister: Entweder ich interpretiere dieses Gleichnis ekklesiologisch<br />
oder sozialkritisch.<br />
Die sozialkritische Deutung sollte wenigstens versucht werden, ich behaupte<br />
ja nicht, es sei die einzig richtige, aber sie ist möglich:<br />
Sehr ausführlich wird der Protest der Langzeitarbeiter geschildert, er ist unsolidarisch<br />
den Letzten gegenüber und versucht, die Hierarchie aufrechtzuerhalten.<br />
An die richtet sich Jesus: „Vergleicht! Die Letzten werden die Ersten<br />
sen.“<br />
Das Gleichnis richtet sich an Menschen, die sich mit dem Protest der Langzeitarbeiter<br />
identifizieren können und versucht, sie zu werben für die Solidarität<br />
mit den Letzten und die Teilnahme am Prozess der Gerechtigkeit Gottes, der<br />
zuerst das Elend der Letzten ändert.<br />
Deshalb wendet sich Jesus den empörten Langzeitarbeitern zu und versucht,<br />
ihre Solidarität zu den Letzten zu wecken. Die Letzten in Matthäus 20 sind die<br />
Kurzzeitarbeiter, in Matthäus 19 sind es die Armen.<br />
Ich stell mir vor, wie die Langzeitarbeiter mit den Kurzzeitarbeitern streiten,<br />
wie die andern, die keine Arbeit haben, dazukommen und sich einmischen,<br />
denn sie haben nicht mal die Chance für einen schlecht bezahlten Job gehabt.<br />
Was wollte Jesus mit dem Gleichnis? Er wollte vielleicht provozieren. Wäre<br />
ich der Weinbergbesitzer, ich hätte doch in aller Stille zuerst die Langzeitarbeiter<br />
bezahlt, erst wenn die weg sind, die Kurzzeitarbeiter. Sonst würde ich<br />
ja provozieren, dass am nächsten Tag viele erst später zur Arbeit kommen<br />
und die Trauben nicht geerntet werden.<br />
Das Gleichnis regt zum Nachdenken an. Und je länger ich nachdenke, desto<br />
mehr komme ich zu der Einsicht: die Allerletzten sind hier gar nicht im<br />
Gleichnis: Die, die noch schlechter gestellt sind, die vollständig arbeitslosen<br />
Männer, Frauen und Kinder – sie sind die Letzten in der Gesellschaft – die Allerletzten<br />
sind nach Matthäus 21 die Ausgegrenzten, die Kinder, Kranke, Zöllner<br />
und Dirnen (Mt 21,31). Wer den Vergleich anstellt, zu dem wir ja aufgefordert<br />
werden, muss zu diesem Schluss kommen: Diese Allerletzten werden<br />
die Ersten sein – so soll es sein.<br />
Und er sagt von den Chancenlosen:<br />
Mt 11,5 (Bibel in gerechter Sprache): „Selig sind sie, denn sie werden das<br />
Evangelium verkünden.“ Die Armen haben uns was zu sagen.<br />
Diese Übersetzung stellt meine Theologie vom Kopf auf die Füße: Wie lange<br />
haben wir missioniert in der so genannten 3. Welt und den „Armen“ gesagt,<br />
wie es sein soll. Und wie schwer hat es deren Theologie, bei uns Eingang zu<br />
<strong>Theologinnen</strong> <strong>23</strong> / September 2010 43