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Frühwarnsystem nah, sogenannte „trigger warnings“. Der Begriff stammt aus der<br />
Psychologie. Opfer von Gewalt sollen durch einen Hinweis die Möglichkeit bekommen, eine<br />
Retraumatisierung zu vermeiden. Kritiker sehen in „trigger warnings“ eine „vorauseilende<br />
Zensur“.<br />
Doch um Zensur geht es den Studierenden nicht, sagt Helen Bendix. Sie hat die Debatte<br />
dreieinhalb Jahre lang miterlebt, als sie in den USA ihren Bachelorabschluss machte.<br />
Während ihres Studiums arbeitete sie für ein Notfalltelefon, bei dem Mitstudierende sich<br />
melden konnten, zum Beispiel wenn sie sexuelle Gewalt erlebt hatten. 2013 organisierte ihre<br />
Gruppe einen Slut Walk auf dem Campus, einen Protestmarsch gegen sexuelle Gewalt. Viele<br />
Studentinnen liefen wenig bekleidet mit. „Das ist keine Einladung“, stand auf ihren Plakaten.<br />
Später wurde die Gruppe von anderen Studentinnen kritisiert. „Wir hätten gern gewusst, wo<br />
ihr langlauft“, stand in E-Mails. Die Gruppe diskutierte: Muss man schockieren, um auf das<br />
Thema aufmerksam zu machen? Oder sollten sie als Organisation gerade sensibel sein?<br />
Helen Bendix fand die Diskussion „unglaublich anstrengend“. Es sei zwar sinnvoll, vor<br />
Inhalten zu warnen, die für eine breite Gruppe schwer auszuhalten sein könnten. „Aber was<br />
Angst macht, ist sehr individuell und man kann nicht vor allem warnen“, sagt sie. Im Jahr<br />
darauf schickte ihre Gruppe trotzdem eine Mail an alle Studierenden. Darin stand, wo der Zug<br />
langmarschieren würde – und wo es auf dem Campus Hilfe gab.<br />
Auch Martin Lüthe arbeitet mit „trigger warnings“. Er ist Juniorpr<strong>of</strong>essor für Amerikastudien im<br />
Bereich Kultur an der Freien Universität und gibt Seminare über Rapmusik. Viele Texte, die<br />
er untersucht, sind frauenverachtend. Das will er nicht hinnehmen. Er kündigt an, wenn<br />
Lieder oder Filme von sexueller Gewalt handeln. Wer will, kann den Raum verlassen. Lüthe<br />
fühlt sich dadurch nicht eingeschränkt: „Man kann ja trotzdem, aber eben nicht nur, über die<br />
tollen Reime reden“, sagt er. „Trigger warnings“ seien ein Mittel zur kritischen Distanzierung.<br />
„Damit signalisiere ich: Mir ist bewusst, dass Sprache verletzen kann.“ Der Dozent des Ovid-<br />
Seminars war dagegen einfach zu den Reimen übergegangen.<br />
Lüthe ist Historiker, für ihn hat die Debatte ihre Wurzeln in der jüngeren Geschichte des<br />
Feminismus. Dort gibt seit den 1980er Jahren eine Hinwendung zur Sprachanalyse. Die<br />
These lautet: Im Alltag gibt es Diskriminierungen, die beim Sprechen reproduziert werden.<br />
Rassismus kann auch da vorkommen, wo jemand gar keine Machtaussage macht, sondern<br />
nur gedankenlos ein Wort benutzt. Auf diese Verstrickung wollen die Studierenden<br />
hinweisen, sagt Lüthe. Er selbst hält die Forderungen der Studierenden für produktiv: „Sie<br />
regen zum Nachdenken an.“<br />
Die linken Studierenden, die für Minderheitenschutz kämpfen, wehren sich denn auch gegen<br />
den Vorwurf, sie würden die freie Rede unterbinden wollen. Diejenigen, die jetzt um ihre<br />
Meinungsfreiheit fürchten, säßen ja typischerweise im Zentrum der Macht: Meist seien es<br />
ältere Pr<strong>of</strong>essoren, die nicht gewohnt sind, dass das, was sie sagen, infrage gestellt wird.<br />
Helen Bendix berichtet von Dozenten in den USA, die eine Trans-Studentin immer mit ihrem<br />
männlichen Vornamen anredeten, weil es so im Seminarplan stand. Die Bitte der Studentin,<br />
sie als Frau zu bezeichnen, ignorierten sie. „Sie kannten sich mit dem Thema Transidentität<br />
nicht aus und hatten dafür kein Verständnis“, erzählt Bendix. „Diejenigen, die vermeintlich die<br />
Meinungsfreiheit verteidigen, bedenken <strong>of</strong>t nicht, dass andere Leute von ihrer Meinung<br />
verletzt werden.“<br />
Lüthe sagt, durch die sozialen Medien und durch die aktuellen Proteste würden Seminare<br />
nun einmal auch zum Gegenstand öffentlicher Diskussion. Manche Lehrenden hätten Angst<br />
vor dieser Machtverschiebung. Um nicht in die Kritik zu geraten, würden sie ihre Leselisten