pdf | 1MB - Theodor-Heuss - Kolleg
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Traum hinter sich zu werfen.« 299 Daraus folgt bei <strong>Heuss</strong> jedoch kein politisches Programm<br />
der konfliktären Aufarbeitung, wie sie seit ca 1965 immer stärker eingefordert wurde.<br />
Aufarbeitung hat vor allem auf der individuellen Ebene zu geschehen, denn das Hauptpro-<br />
blem des Nationalsozialismus ist nach <strong>Heuss</strong>, die Veränderung des Menschenbilds in den<br />
Köpfen der Menschen. »D e r Mensch, d i e Menschheit ist ein abstrakte Annahme, eine<br />
statistische Feststellung, oft nur eine unverbindliche Phrase; aber die M e n s c h l i c h -<br />
k e i t ist ein individuelles Sich-Verhalten, ein ganz einfaches Sich-Bewähren gegenüber<br />
dem anderen, welcher Religion, welcher Rasse, welchen Standes, welchen Berufs er auch<br />
sei.« 300 Dieses Motiv legt nahe, die Bewältigung des Nationalsozialismus in der inneren<br />
Befragung zu finden, die eigene Menschlichkeit zu suchen. So gesehen ist Nationalsozialis-<br />
mus für <strong>Heuss</strong> ein ideologisch-geistiges Problem.<br />
In ambivalenter Weise stehen bei <strong>Heuss</strong> Schuld und Entlastung nebeneinander, was<br />
dann insbesondere bei seiner These von der »Kollektivscham« eine Rolle spielt. <strong>Heuss</strong><br />
geht davon aus, dass die Deutschen etwas von den Verbrechen des Nationalsozialismus<br />
wussten und tritt damit einer weit verbreiteten Haltung entgegen, die genau dies in Frage<br />
stellt. Auf der anderen Seite relativiert er dies. Man habe zwar etwas gewusst, aber nicht<br />
vom wahren Ausmaß, vom Zivilisationsbruch, der diesen Verbrechen zu Grunde gelegen<br />
habe. »Wir h a b e n von den Dingen gewusst. Wir wussten auch aus den Schreiben<br />
evangelischer und katholischer Bischöfe, die ihren geheimnisreichen Weg zu den Men-<br />
schen fanden, von der systematischen Ermordung der Insassen deutscher Heilanstalten.<br />
[...] Unsere Phantasie, die aus den bürgerlichen und christlichen Tradition sich nährte,<br />
umfasste nicht die Quantität dieser kalten und leidvollen Vernichtung.« 301 Die Relativierung<br />
geschieht nun dort, wo »wir« mit unserer »Tradition« den anonymen Nationalsozialisten<br />
gegenüberstehen. Mindestens genau so schwer wie die materielllen Verbrechen wiegt die<br />
Tatsache des im eigenen Namen begangenen Traditionsbruchs. »Aber etwas wie eine<br />
Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben. Das Schlimmste, was Hitler<br />
uns angetan -, ist doch dies gewesen, dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm<br />
und seinen Gesellen gemeinsam den Namen Deutsche zu tragen.« 302 So gelesen gibt es<br />
verschiedene Quellen des Schamempfindens, zum Beispiel, weil man sich ungeachtet<br />
eigener Schuld verantwortlich fühlen kann. Bei <strong>Heuss</strong> ist es das Mit-Den-Opfern-Emp-<br />
finden und Verantwortlich-Fühlen weil Verbrechen im eigenen Namen (jedoch nicht im<br />
eigenen Auftrag) geschehen sind. »Wir müssen im Verhältnis Mensch zu Mensch eine freie<br />
Bewertung des Menschentums zurückgewinnen.« 303 In einem Interview anlässlich seines<br />
299 Lamm (1964); <strong>Heuss</strong> am 25.11.1945; S. 95<br />
300 Lamm (1964); Das Mahnmal; S. 140<br />
301 Lamm (1964); Das Mahnmal; S. 136<br />
302 Lamm (1964); Mut zur Liebe 07.12.1949; S. 122<br />
303 Dahrendorf/Vogt (1984); Mut zur Liebe; S. 384<br />
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