pdf | 1MB - Theodor-Heuss - Kolleg
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mag vor allem darin begründet zu sein, dass er selbst die neue parlamentarische Arbeits-<br />
weise weder in Weimar richtig erlebte, denn er gehörte nicht zu denjenigen, die für die<br />
Organisation der Fraktion verantwortlich waren, noch, dass er sie im neuen Bundestag<br />
einnahm - etwa als Fraktionsführer oder Ausschussmitarbeiter, dessen parlamentarischer<br />
Aufstieg nun immer stärker über den Weg Spezialisierung auf immer komplizierter<br />
werdende Sachfragen und über immer stärkere innerfraktionelle Hierarchieebenen führte.<br />
▌ Mässigung und Masse<br />
Schon im aristotelischen Athen fürchtete man die Zerstörung der politischen Ordnung<br />
durch die Demagogie. Dahinter stand und steht die Angst, dass statt der Vernunft das Un-<br />
bewusste die Politik gestaltet. Dadurch, dass Politik nicht mehr der Kommunikation der<br />
Freien sondern der Affirmation der Gleichen entspringt, wird das Politische selbst abge-<br />
schafft. Wird dieser Gedanke bereits bei Thomas Hobbes wieder aufgegriffen, so findet er<br />
nach der französischen Revolution Eingang in die Theorie von der »Psychologie der<br />
Masse.« Insbesondere unter den Vorzeichen der Proletarisierung breiter Bevölkerungs-<br />
schichten im Zuge der industriellen Revolution wird die Masse zunehmend als die<br />
elementare Gefährdung der staatlichen Ordnung wahrgenommen. Ortega Y Gasset<br />
schreibt: »Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigen-<br />
begabt und erlesen ist. Wer nicht 'wie alle' denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.<br />
Und es ist klar, dass 'alle' eben nicht alle sind.« 137 Sie ist ein triebhaftes, irrationales von<br />
Demagogen manipulierbares Wesen. Unter der Masse haben wir uns die Negierung der in-<br />
dividuellen Bürgergesinnung vorzustellen. In diesem Sinne benutzt 1928 auch <strong>Heuss</strong> den<br />
Terminus: »Die Beispiele der Geschichte, Anzeichen unserer Gegenwart zeigen, wie sehr<br />
die 'besitzlose' Masse, von Bindungen und Tradition gelöst, in der Gefahr steht, Raub des<br />
bloßen Schlagworts, Gefolgschaft des Demagogen zu werden.« 138 Deutlich wird, dass<br />
demnach vor allem die Besitzlosen gefährdet sind, Masse sind demnach vor allem die<br />
anderen. »Masse« ist somit auch ein Schlüsselbegriff, der anzeigt, welchen Stellenwert<br />
sein Benutzer als Teil der Nicht-Masse dem Individuum in der anonymen Mehrheit geben<br />
will.<br />
Liest man das <strong>Heuss</strong>-Zitat unter diesen Vorzeichen, so zeigt sich, dass vor allem Besitz<br />
und Tradition zentrale Begriffe sind, die das Individuum immun gegen »Vermassung« ma-<br />
chen. Im Gegensatz zu Le Bon oder Ortega will <strong>Heuss</strong> der Masse nicht mit einem repressi-<br />
ven Programm begegnen. Bei ihm konturiert sich ein klarer Erziehungsanspruch. Er rela-<br />
tiviert das, wie er sich ausdrückt, »Vermassungsgerede« 139 und sieht das Phänomen in<br />
137 Ortega Y Gasset (1956); S. 12<br />
138 <strong>Heuss</strong> (1926); S. 190<br />
139 Pikart (1970); Brief an Toni Stolper vom 24.02.1958 ; S. 313<br />
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