pdf | 1MB - Theodor-Heuss - Kolleg
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Wenn auch die Ausweitung des Naumann-Kreises in den gesellschaftlichen Bereich et-<br />
was anderes vermuten lassen würde, richten sich die politischen Vorstellungen auf den<br />
Staat und weniger auf die Gesellschaft: »Die religiös-politischen Ordnungsvorstellungen<br />
des liberalen Protestantismus sind primär staats- und weniger gesellschaftsbezogen. Aber<br />
die dezidiert zivilreligiöse Grundhaltung produzierte eine eigentümliche Dialektik von<br />
Staatsnähe und Staatsferne.« 92<br />
▌ Volksstaat und Kaisertum<br />
Innenpolitisch bewegt sich der Naumann-Kreis im Spannungsfeld von Nationalismus<br />
und Sozialreform: Auf der einen Seite die Unterstützung eines deutschen Imperialismus,<br />
auf der anderen Seite die Forcierung innerer Demokratisierung. »Nation und nationaler<br />
Machtstaat fielen für sie zusammen, und das Nationale war beiden oberster Wert, bei We-<br />
ber gesteigert zu einer Art säkularen Glaubens, zum Glauben an Deutschland (W.J. Mom-<br />
msen), aber an ein erneuertes Deutschland, stark nach außen und politisch und sozial re-<br />
formfähig nach innen.« 93 Nach Naumanns Vorstellungen sollten diese Reformen im<br />
Bündnis von Linksliberalen und Sozialdemokratie getragen werden, im »Block von<br />
Bassermann bis Bebel« als einer breiten sozialen und politischen Bewegung. Noch 1918<br />
schreibt er den flammenden Appell: »Noch ist es möglich. Jetzt können sich Kaiser und<br />
Masse verstehen, jetzt kann neben dem zerbrechenden Russland unser deutsches Volk<br />
zeigen, welche höhere geschichtliche Einsicht und praktische Vernunft ihm gegeben ist.<br />
Die Vorbereitungen sind vorhanden, der Wille zum Volksstaat regt sich, der Nationalgeist<br />
ist lebendig, und der Kaiser ist umflutet von seinem Heer, das aus deutschen Söhnen be-<br />
steht, aus deutschen Bürgern. Im Volksstaat ist er groß und sicher, im Volksstaat reift das<br />
Werk seiner und unserer Ahnen.« 94 Das Schicksal dieser Vorstellungen war, dass das<br />
Kaisertum weder zu retten gewesen ist noch dass dem Kaiser daran gelegen war, die ihm<br />
von Naumann und Weber zugewiesene Verantwortung zu übernehmen. Dies zu erkennen,<br />
gelang Naumann relativ spät. Nach Kapitulation und Revolution beteiligte sich Naumann<br />
am Verfassungsgebungsprozess und wurde in die Nationalversammlung gewählt. Weiteren<br />
Einfluss als seine Person nahmen jedoch seine Ideen auf die politischen Geschicke der<br />
Weimarer Republik. Bereits 1919 starb Naumann im Alter von 59 Jahren.<br />
▌ Mitteleuropa<br />
Außenpolitisch besteht Naumanns Programm in einem kultur- und wirtschaftshegemo-<br />
nial um die Großdeutsche Lösung herumgruppiertes »Mitteleuropa.« Unter deutscher Vor-<br />
92 Hübinger (2000a); S. 120<br />
93 Langewiesche (1988); S. 221<br />
94 Naumann (1917); S. 56<br />
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