Herrschaft der Natur - Wagn, Klaus
Herrschaft der Natur - Wagn, Klaus
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Die kausale Treue<br />
Andis Mutter lässt sich scheiden, denn sie hat einen an<strong>der</strong>en. Nicht weil sie will, son<strong>der</strong>n<br />
weil es ihre <strong>Natur</strong> befiehlt. Sie kann nicht an<strong>der</strong>s.<br />
Sie weint. Sie geht zum Anwalt.<br />
Das Gericht berücksichtigt das Kindeswohl.<br />
Andi kommt zur Mutter.<br />
Andi, acht Jahre alt, vertraut seinen Eltern. Warum sollte ein Kind von acht Jahren seinen<br />
Eltern nicht vertrauen? Alles, was die Eltern eines Achtjährigen machen, ist richtig.<br />
Wenn er nur etwas gesagt hätte, aber er war ganz still.<br />
Andi kriegt einen Hamster und kommt ins Internat. Da hat er es ja besser als je zuvor.<br />
Lauter neue Freunde. Jungenstreiche nach Lehrplan. Das unerträgliche Glück <strong>der</strong> Scheidungskin<strong>der</strong>.<br />
Wer seine Katze aussetzt, wird verachtet. Wer seine Kin<strong>der</strong> im Stich lässt, genießt Achtung.<br />
Andi zu Besuch beim Vater. Denn Andi gehört jetzt zu seiner Mutter, und die ist seinem<br />
Vater so fremd geworden. Auch Andi wird seinem Vater fremd.<br />
Der Feldversuch „tut Scheiden weh?“ läuft. Obwohl je<strong>der</strong> das Resultat kennt, werden<br />
immer neue Varianten ersonnen.<br />
Das neueste ist, dass das Sorgerecht für die Kin<strong>der</strong> zwischen den Eltern geteilt wird.<br />
„Häuser werden bei <strong>der</strong> Scheidung ja auch geteilt“, so Der Spiegel. Wie kann sich ein<br />
Kind, das eine Seele hat, mit zwei Todfeinden zugleich identifizieren?<br />
Es darf keine Seele haben und keine Seele kriegen.<br />
Kausale Eltern haben kausale Kin<strong>der</strong>, und Objekte lassen sich teilen.<br />
So einfach ist das.<br />
Weil <strong>der</strong> Horizont des Subjekts die Ewigkeit ist, sind seine Grundsätze und Partnerschaften<br />
auf Dauer angelegt.<br />
In einer Komödie von Kurt Goetz, in <strong>der</strong> einer Ehefrau das Gerücht zugetragen wird, ihr<br />
Mann sei ein Mör<strong>der</strong>, erwi<strong>der</strong>t diese gelassen, falls ihr Mann wirklich jemanden umgebracht<br />
habe, so hätte er dafür bestimmt gute Gründe gehabt.<br />
Die kausale Ehefrau steht zu ihrem Mann nicht. Sie distanziert sich bereits von ihm,<br />
wenn ihr bei <strong>der</strong> Eheschließung die Annahme seines Nachnamens angeboten wird.<br />
Der kausale Mensch muss immer auf sich aufpassen, denn er ist ja immer nur das, wozu<br />
er definiert wird. Er denkt, wenn er sich mit jemandem identifiziert, geht er in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Person auf und ist deshalb nichts mehr.<br />
Beim Subjekt ist es umgekehrt. Es gewinnt seine Identität – das, was es ist – gerade<br />
durch Identifikation. Identifikation mit sich und an<strong>der</strong>en – Treue – ist geradezu eine<br />
Existenzfrage <strong>der</strong> Person.<br />
Beim kausalen Menschen ist es genau umgekehrt: Er kann nur existieren, wenn er untreu<br />
ist. Für ihn ist Treue eine Fessel.<br />
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