Herrschaft der Natur - Wagn, Klaus
Herrschaft der Natur - Wagn, Klaus
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Vom Phänomen <strong>der</strong> Besessenheit – in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Psychiatrie MPS genannt, multiple<br />
Persönlichkeitsstörung – hat je<strong>der</strong> schon einmal gehört: verschiedene, sich gegenseitig<br />
völlig fremde Personen, es wurden bis zu hun<strong>der</strong>t gezählt, „bewohnen“ ein und denselben<br />
Körper, ohne voneinan<strong>der</strong> zu wissen. Mit völlig verschiedenen Charakteren, mit<br />
verschiedenen Begabungen, mit verschiedenen Stimmen, ja sogar mit verschiedenen<br />
Krankheiten und verschiedenen Allergien.<br />
Viele Personen und nur ein Gehirn.<br />
Trotz aller Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, in den elektromagnetischen Wellen,<br />
die das Gehirn durchpulsen, Gedanken zu lesen.<br />
Man mag Gehirnwäsche betreiben, aber in <strong>der</strong> Objektwelt bleibt die Person unauffindbar,<br />
denn das Subjekt – <strong>der</strong> Geist – ist kein Objekt und unterliegt nicht <strong>der</strong> Zeit. Alles<br />
Zeitlose ist nicht von dieser Welt und deshalb auch nicht von dieser Welt aus zugänglich.<br />
Zeitloses ist in <strong>der</strong> Zeit nicht zerstörbar. Wer weiß, was wahre Liebe ist, <strong>der</strong> weiß auch,<br />
dass sich wahre Liebe durch nichts beeinflussen lässt. Zu den Tiefen <strong>der</strong> Seele hat die<br />
sogenannte Realität keinen Schlüssel.<br />
Eine Gehirnwäsche, die einen Menschen definitiv in einen an<strong>der</strong>e verwandelt, gibt es<br />
nur im Roman und im Film. Systeme – Geister – können zwar das Denken beherrschen,<br />
aber die eigentliche Person ist unzerstörbar. Diese Unzerstörbarkeit ist tröstlich und beklemmend<br />
zugleich: Sie bestätigt unsere ewige Existenz, aber sie konfrontiert uns auf<br />
ewig mit allen unseren Taten und <strong>der</strong>en Folgen.<br />
Die Schuld bleibt, und es kommt immer noch mehr hinzu.<br />
Kein Selbstmord kann uns davon erlösen, denn <strong>der</strong> Tod ist kein Ende.<br />
Der Leib ist nur ein vorübergehen<strong>der</strong>, zeitlicher Anzug <strong>der</strong> ewigen Person. Wenn er<br />
abgetragen ist, wird er abgelegt wie ein altes Kleidungsstück, aber die Person bleibt.<br />
Es mag sich dem wohlerzogenen jungen Mann eine günstige Gelegenheit bieten, eine<br />
krumme Sache zu machen, die niemals herauskommen kann, und er würde sie vielleicht<br />
ganz gern nutzen, aber sein Gewissen – ein zeitunabhängiger, ewiger Teil seiner Person,<br />
zu <strong>der</strong> die Realität keinen Zutritt hat – stört ihn dabei. Er kann ihn von <strong>der</strong> Gegenwart<br />
aus nicht än<strong>der</strong>n, so sehr er sich vielleicht auch zu einem neuen, <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
wi<strong>der</strong>sprechenden Charakter umprogrammieren möchte.<br />
Der Augenblick ist so nah und die Ewigkeit so fern. Vielleicht gibt es sie gar nicht?<br />
So ignorieren wir immer wie<strong>der</strong>, was wir doch genau wissen, und massakrieren uns<br />
selbst. Wir achten unsere Seele für nichts, wir ignorieren, gefangen im Augenblick, die<br />
Ewigkeit. Ein kleiner Verrat in unserem Leben, um eines kleinen, momentanen Vorteils<br />
willen, bleibt für immer unauslöschlich. Er ist in tausend Jahren immer noch da. Und in<br />
zehntausend Jahren auch noch.<br />
Der brave Buchhalter, <strong>der</strong> nur einmal etwas erleben will und das Kassenbuch fälscht.<br />
Das junge Mädchen, das sich einmal dem falschen Mann hingibt, nur weil es hinter den<br />
erfahrenen Freundinnen nicht länger zurückbleiben will. Der liebende Ehemann, <strong>der</strong><br />
meint, wenn seine Frau nichts erfährt, sei einmal keinmal. Zwar vergeht jedes Einmal<br />
rasch, aber seine Spuren und die seine Folgen bleiben ewig. – Nicht irgendwo, weit<br />
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