Herrschaft der Natur - Wagn, Klaus

Da nur ein Narr ein Huhn schlachtet, das goldene Eier legt, galt lange Zeit die ungeschriebene
Regel, dass der Bruch das Tabu nicht aufheben darf, sondern es zu bestätigen
hat: Fausts Gretchen musste sterben, und die Kameliendame auch.
Auch das Tabu der Nacktheit im Film wurde zuerst nur in engen Grenzen gebrochen,
ohne es in seiner Substanz anzutasten.
Aber der Geist war ja schon längst zu einer Fiktion verkümmert. Moral und Gewissen
waren nur noch verlassene Festungen, deren Sinn niemand mehr verstand. Bloß noch
beliebig manipulierbare dramaturgische Elemente.
„Bürgerliche Heuchelei“.
Im freien Spiel der Kräfte war die Versuchung zu groß, das herrenlos gewordene kulturelle
Kapital anzugreifen, statt sich mit den Zinsen zu begnügen. Denn es bestand immer
die Gefahr, dass ein Konkurrent im Film-, Magazin- oder Buch-Business mit einem
neuen Tabubruch zuvorkam.
Das Tabubrechen wurde zum Wettrennen.
So haben wir die alten Festungswälle nach und nach und dann immer schneller geschleift
und daraus die eleganten Boulevards unserer Großstädte gemacht.
Die ersten Tabubrecher – Künstler, die professionellen Außenseiter der Gesellschaft –
brauchten noch Mut und Fingerspitzengefühl, sie riskierten Gefängnis und gesellschaftliche
Ächtung. Aber die Situation hat sich längst umgekehrt: Tabubrecher genießen
höchste Ehren, und wer sich heute noch schützend vor ein Tabu des Geistes stellt, wird
von den Medien als Faschist geächtet.
Das berühmteste Stripper-Lokal der Welt, das Pariser Crazy Horse, wurde vom französischen
Kultusminister Malraux schon vor Jahrzehnten unter Denkmalschutz gestellt.
Hatten wir früher stille Bilder von freundlichen Menschen und Landschaften in unseren
Wohnungen, so ergötzen wir uns jetzt mitten in unseren vier Wänden an lauten, bewegten
Bildern von Schlägereien, Morden und Vergewaltigungen.
Die Tabubrecher nahmen die „Spießer“, wie sie die an geistigen Werten orientierten
ehrlich arbeitenden Bürger verhöhnen, doppelt aus: einmal, indem sie sie schockierten
und dadurch berühmt wurden, und zum anderen, indem sie sich von ihnen auch noch für
ihre Werke bezahlen ließen.
Ein todsicheres Rezept.
Sie hatten die Naturwissenschaften auf ihrer Seite: das Auto, das elektrische Licht, das
Telefon – keiner der traditionellen geistigen Werte konnte etwas Vergleichbares bieten.
Warum also an ihnen festhalten?
Die Religion des Materialismus erweist sich allen anderen überlegen – nach ihrem eigenen
Maßstab. Und der ist materialistisch.
Was ist schon ein Gedichtband im Vergleich zu einem gleich dicken Bündel Geldscheinen?
So gut wie alle Werte sind ausgeschlachtet, es wird immer unmöglicher, Skandale zu
machen. Viele Autoren, die nur wegen ihrer Tabubrüche berühmt wurden, sind bereits
verstummt.
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