Herrschaft der Natur - Wagn, Klaus

Ist die Wirklichkeit gelogen oder ist die Lüge Wirklichkeit geworden?
Der Geist – würden wir ihn nicht leugnen – wäre jetzt ohnehin arbeitslos.
Die Innenwelt ist zur Außenwelt geworden und die Außenwelt zur Innenwelt: Beide
sind jetzt ein und dasselbe – wir haben der Natur den Geist unterworfen, und die gebraucht
ihn jetzt zu ihrer evolutionären Weiterentwicklung.
Die wissenschaftliche Technik simuliert nicht nur unseren Körper, sondern auch unsere
Seele. Wir leiden nicht nur an physischem Bewegungsmangel, sondern auch an psychischem.
Ein Indianer, der mit Pfeil und Bogen auf die Jagd geht – dabei vielleicht ständig bedroht
von wilden Tieren – erhält lauter konkrete Sinnesreize: Geräusche, Gerüche,
Schatten, Berührungen der Haut, der Hände. Lauter Originale, die über Sattwerden oder
Hungern, über Leben und Tod entscheiden können, wenn er sie nicht richtig einschätzt.
Im Vergleich dazu sind die Wahrnehmungen des fortschrittlichen Menschen bedeutungslos.
Die Gefahren, die ihn bedrohen, sind abstrakt: Er wird gefeuert, aber nicht
getötet. Er verliert Geld, aber in der Regel weder Essen noch Trinken noch das Dach
über dem Kopf.
Der kausale Mensch hungert nach einer Realität, die es nicht mehr gibt. Der eine ersetzt
sie durch immer mehr Gewalt- und Sexdarbietungen im Fernsehen, der andere holt sich
das Vermisste beim Extremklettern, Drachenfliegen, Bungeejumping, oder er marschiert
in der Polarnacht allein zum Nordpol.
Die Herrschaft der Natur macht alles unnatürlich.
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