Herrschaft der Natur - Wagn, Klaus
Herrschaft der Natur - Wagn, Klaus
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Der kausale Wille<br />
Obwohl Ödipus völlig unwissend seine Mutter geehelicht und seinen Vater getötet hatte,<br />
wusste er sich schuldig, als er die Wahrheit erfuhr, und ist daran verzweifelt.<br />
So etwas könnte uns nicht passieren.<br />
Wir haben uns nämlich nicht nur <strong>der</strong> christlich-jüdischen Ethik entledigt, son<strong>der</strong>n auch<br />
<strong>der</strong> humanistischen.<br />
Also je<strong>der</strong>.<br />
Verantwortlich sein kann nur, wer einen freien Willen hat, also außerhalb <strong>der</strong> Kausalität<br />
steht. Der kausale Mensch hat aber keinen freien Willen, denn er ist <strong>der</strong> Kausalität unterworfen.<br />
Was er will, ist das, was seine <strong>Natur</strong> will. Sein Wille ist nicht frei, son<strong>der</strong>n kausal.<br />
Deshalb ist er nicht schuldfähig.<br />
Sowenig ein böses Wort dafür kann, dass es aus dem Mund gekommen ist, sowenig<br />
kann <strong>der</strong> Mensch dafür, <strong>der</strong> es gesprochen hat. Denn er ist wie sie nur ein Objekt <strong>der</strong><br />
<strong>Natur</strong>gesetze.<br />
Wie unschuldig vor allem unsere kausalen Verbrecher geworden sind, lesen wir täglich<br />
in unseren Gerichtsreportagen. Der Täter ist das eigentliche Opfer, denn er kann für seine<br />
Tat nichts. Die Umstände – die <strong>Natur</strong>, seine <strong>Natur</strong> – haben ihn dazu gezwungen.<br />
Ob ein- o<strong>der</strong> mehrfacher Mord – Ursachen gibt es immer: Die Eltern, weil sie zu streng<br />
waren, zu nachlässig. Die zu gute, die zu böse, die zu durchschnittliche Mutter. Der<br />
Stiefvater. Die Armut. Der Reichtum. Die fatale Mischung von beidem.<br />
Die Gesellschaft eben, die <strong>Natur</strong>, die <strong>Natur</strong>gesetze.<br />
Der Täter hat nur eine Rolle gespielt, die er nicht wählen konnte, weil sie ihn, gemäß<br />
den <strong>Natur</strong>gesetzen, gewählt hat. Er ist nichts als das Produkt des freien Spiels <strong>der</strong> Kräfte.<br />
Kein Wun<strong>der</strong>, dass die Gesellschaft so ist, wie sie ist.<br />
Der Gegenpol des totalen kausalen Menschen ist <strong>der</strong> totale Subjektmensch Jesus, <strong>der</strong><br />
nicht nur seine eigene Schuld nicht auf an<strong>der</strong>e abgewälzt – er hat gar keine –, son<strong>der</strong>n<br />
auch noch die aller an<strong>der</strong>en auf sich nimmt.<br />
Der Subjektmensch Jesus hebt die Kausalität auf, <strong>der</strong> kausale Mensch hebt die Freiheit<br />
auf.<br />
Nach dem Untergang des Hitlerregimes mündete die Suche nach den Schuldigen rasch<br />
in die Suche nach den Ursachen. Die lagen im Versailler Vertrag, in <strong>der</strong> Weltwirtschaftskrise,<br />
im Verhalten des Auslandes, an <strong>der</strong> preußischen Pflichterfüllung. Am deutschen<br />
Nationalcharakter, an <strong>der</strong> Naivität des Deutschen, an den Opfern.<br />
Und das war nicht einmal so falsch: Schuldig wird <strong>der</strong> Mensch nur mit dem ersten<br />
Schritt, mit dem er sich zum Objekt macht. Das ist die eigentliche Sünde. Danach hat er<br />
keine Kontrolle mehr über sich.<br />
Was viele als einen Genuß ansehen, als Objekt sich gehen zu lassen, ist bereits die Strafe:<br />
Gott hat sie in den Begierden ihres Herzens dahingegeben 81<br />
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