1945 - Deutschland 1933 – 1990
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<strong>1945</strong><br />
Wer allerdings verurteilen will, dass er aus der Partei nicht austrat, als<br />
klar wurde, wohin der Zug fuhr, sollte wissen, dass es auch in der<br />
nächsten deutschen Diktatur das weitaus größere Politikum war, aus<br />
der SED auszutreten, als gar nicht erst einzutreten. Davon abgesehen<br />
wäre es auch hilfreich gewesen, wenn sich mehr SED-Mitglieder einer<br />
weiteren Mitwirkung verweigert hätten, als sie bemerkten, dass ihnen<br />
ihr Eintritt in diese Partei nicht die erhoffte Möglichkeit bot, um die<br />
Partei von innen heraus zu verändern. Dieser Zeitpunkt wäre geeignet<br />
gewesen, um zu bemerken, dass es sich schon wieder um eine Diktatur<br />
handelte, in der der Einzelne, der daran etwas ändern will, nur die<br />
Möglichkeit hat, seine eigene Person aus dem Räderwerk zu nehmen,<br />
um es auf diese Art allmählich lahmzulegen.<br />
Der Katholik Kurt G. Kiesinger entzog sich dem Staat ohne Zeitverzug<br />
und „betätigte sich nach der zweiten juristischen Staatsprüfung, die er<br />
im Sommer 1934 ablegte, als freiberuflicher Rechtsanwalt und privater<br />
Rechtslehrer (Repetitor für Staats- und allgemeines Recht an der<br />
Friedrich-Wilhelm-Universität) in Berlin. Über weitergehende Kontakte<br />
zur NSDAP oder zu einer ihrer Untergliederungen verfügte er<br />
von nun an nicht mehr. Im Gegenteil: Er vermied es tunlichst, in den<br />
Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund (NSRB) einzutreten. Das<br />
war für einen Juristen im »Dritten Reich« eine seltene Ausnahme. Sein<br />
Name wurde im Berliner Anwaltsverzeichnis nicht im umfangreichen<br />
Teil der Mitglieder des NSRB, sondern zumindest bis 1938 zusammen<br />
mit den jüdischen Anwälten im angehängten schmalen Teil aufgelistet.<br />
Für eine Karriere war das auf alle Fälle wenig förderlich.“<br />
Da konnte er sich auf alle Fälle schon einmal mit dem Phänomen der<br />
Diskriminierung der Juden auseinandersetzen. Ich weiß nicht, ob man<br />
seit 1938 ein gebürtiger Jude sein musste, um in diesen angehängten<br />
schmalen Teil hineinzukommen, oder ob Juden schon 1938 aus dem<br />
Berliner Anwaltsverzeichnis gänzlich verschwanden.<br />
Kiesinger war sicher kein Hellseher, der im Sommer 1934 wusste, dass<br />
der Spuk nur noch elf Jahre dauern würde und dass ihm der Verzicht<br />
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