87- Anteil <strong>der</strong> Behandlungsverweigerungen bei <strong>der</strong> letzten Krankheitsepisode - nach Diagnose dargestellt (nachOrgansystemen zusammengefasst)%Hämatologisch25,0ImmunologischKardiovaskulär 20,4Verdauung 19,4Gynäkologisch 19,2Schwangerschaft 17,9Auge 16,7Neurologisch 12,8Ohr 12,5Bewegungsapparat 11,8Psychologisch 11,5Atmungsorgane 11,0Dermatologisch 9,4Allgemein und unspezifisch 9,2Metabolisch, endokrin 7,4Urologisch 5,6Gesamt 14,0Hinweis <strong>zur</strong> Darstellung: Von den Personen, die wegen eines psychologischen Problems im letzten Krankheitsstadium kamen, haben 11,8 % die Verweigerung <strong>von</strong><strong>medizinischen</strong> Leistungen erlebt; dies betrifft jedoch eine beschränkte Anzahl <strong>von</strong> Personen, was somit auf eine Verweigerungsrate verweist, die <strong>von</strong> 4 % bis 18 % reichenkann (siehe die Zeile, die den Zuverlässigkeitsintervall anzeigt).> „Ich bin zu einer <strong>medizinischen</strong> Einrichtung in meiner Stadt gegangen. Ich sagte, dass ich bereits Schritteunternommen hätte, um die Gesundheitskarte zu erhalten und dass ich eine Bescheinigung hätte, die es mirermögliche, in die Notaufnahme zu kommen. Ich hatte Fieber und es schien eine Grippe zu sein, ich hattejedoch we<strong>der</strong> Medikamente noch Informationen darüber, was ich nehmen könnte. Ich gehe also in dieseEinrichtung und die Dame am Empfang fragt mich, woher ich komme. Sie sieht sich meine Bescheinigung(F6) an und sie sagt mir, dass sie mich nicht behandeln können, dass mein Fall kein Notfall sei und dass esdafür Médecins du Monde gibt. Ich habe ihr geantwortet, dass, als ich die Papiere habe ausstellen lassen,man mir gesagt hatte, dass ich <strong>zur</strong> Notaufnahme gehen könnte und da ich mich nicht gut fühle, ichbeschlossen hätte, hierher zu kommen. Abgesehen <strong>von</strong> Médecins du monde bin ich sehr isoliert und ichwusste nicht, wem ich meine Kin<strong>der</strong> anvertrauen soll. Ich habe sie gefragt, warum man sich nicht um michkümmern könne und sie antwortete: „Das ist nicht kostenlos, wir bezahlen das, indem wir arbeiten“. Ich sagteihr, dass diese Leistung öffentlich ist, und dass es für die Menschen unerlässlich wäre und sie antwortete, dassich nicht glauben soll, dass sie für alles bezahlen würden, was die Einwan<strong>der</strong>er wollen. Ich war schockiert<strong>von</strong> dem, was sie sagte. Das war das erste Mal, dass ich mich abgelehnt gefühlt habe.“ Frau, Argentinierin, 23Jahre alt, seit zehn Monaten in Spanien.Tatsächlich ist es primär nicht die Diagnose (und auch nicht die Schwere dieser Diagnose), die <strong>zur</strong>Behandlungsverweigerung führt, son<strong>der</strong>n eher die Art <strong>der</strong> aufgesuchten Einrichtung. Auch wenn die Möglichkeitmehrerer Antworten hinsichtlich <strong>der</strong> aufgesuchten Anlaufstelle(n) jeglichen direkten Rückschluss verhin<strong>der</strong>t, istfestzustellen, dass die Personen, die (mindestens) eine öffentliche medizinische Einrichtung o<strong>der</strong> die Notaufnahmeeines Krankenhauses aufgesucht haben, doppelt so häufig angeben, dass ihnen schon eine Behandlung verweigertwurde, als die, die (mindestens) eine spezielle medizinische Gesundheitseinrichtung aufgesucht haben: DieVerweigerungsquote liegt entsprechend bei 20,9 %, 20,5 % und 11,5 %.108Bericht des European Observatory – Médecins du Monde
Nach einer Anpassung an die Art <strong>der</strong> aufgesuchten <strong>medizinischen</strong> Einrichtungen, an die bisherige Aufenthaltsdauer imAufnahmeland und an die Anwesenheit eines Übersetzers beim Ausfüllen des Fragebogens 100 , ist immer noch diegleiche Verteilung in den Län<strong>der</strong>n, in denen die Umfrage durchgeführt wurde, hinsichtlich <strong>der</strong> Häufigkeit <strong>der</strong>Behandlungsverweigerung festzustellen.88- Schätzung des Risikos <strong>der</strong> Behandlungsverweigerung bei <strong>der</strong> letzten Krankheitsepisode - nach den Län<strong>der</strong>ndargestellt, in denen die Umfrage durchgeführt wurde - nach einer Anpassung an die Art <strong>der</strong> aufgesuchten<strong>medizinischen</strong> Einrichtungen, an die bisherige Aufenthaltsdauer und die Umstände beim Gespräch (Anwesenheiteines Übersetzers o<strong>der</strong> nicht)NL UK BE ES FR EL IT*(OR durch logistische Regression geschätzt, Referenzland = Schweden)* Das Risiko ist <strong>von</strong> einem statistischen Blickwinkel aus betrachtet „unendlich“ schwach für Italien und sein Zuverlässigkeitsintervall nicht schätzbar, da kein einziger Fall einerBehandlungsverweigerung angegeben wurde.Hinweis <strong>zur</strong> Darstellung: Im Vergleich zu Schweden, ist die Wahrscheinlichkeit in Schweden, eine Behandlungsverweigerung erlebt zu haben, 2,1-mal geringer (in grau die <strong>von</strong>einem statistischen Standpunkt aus gesehenen nicht signifikanten Verhältnisse).Es bleibt nichtsdestotrotz schwierig, die Unterschiede zwischen den Län<strong>der</strong>n, in denen die Umfrage durchgeführtwurde, zu deuten. Es ist tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass zahlreiche Auslän<strong>der</strong> <strong>ohne</strong> Aufenthaltstitel, dieBehandlungsverweigerungen schon erwarten, und aus diesem Grund gar nicht erst versuchen, die <strong>medizinischen</strong>Einrichtungen, insbeson<strong>der</strong>e die öffentlichen Einrichtungen, aufzusuchen. Die Behandlungsverweigerungsquotespiegelt somit auch die Verinnerlichung <strong>der</strong> Diskriminierung durch die Personen selbst wi<strong>der</strong>, insbeson<strong>der</strong>e vielleicht inden Län<strong>der</strong>n, wo diese Quote sehr niedrig ist. Im Gegenteil dazu hält vielleicht das Universalitätsprinzip des Zugangs<strong>zur</strong> <strong>medizinischen</strong> Versorgung nach Beveridge 101 die Personen <strong>ohne</strong> Aufenthaltstitel weniger da<strong>von</strong> ab, öffentlicheEinrichtungen aufzusuchen, jedoch werden sie <strong>von</strong> diesem Entschluss durch die häufig erfahrenenBehandlungsverweigerungen in <strong>der</strong> Vergangenheit abgebracht..> „Es war praktisch unmöglich, während meiner Schwangerschaft medizinische Leistungen zu erhalten. DieLeute, die ich kenne, haben mir Angst gemacht: „Wenn du ins Krankenhaus gehst, dann werden sie dichausweisen!“ Eines Tages fühlte ich mich wirklich schlecht und ich ging <strong>zur</strong> Kontrolle in eine Ambulanz mitfreiem Zugang (Walk-in Center). Sie sagten mir, dass sie mir nicht helfen könnten und dass ich, wenn es sichverschlechtere, in die Notaufnahme gehen müsse. Ich habe dann versucht, in die Praxis einesAllgemeinarztes zu gehen – ich war bereits im fünften Monat schwanger – wo man es aufgrund meinesStatus einer Person <strong>ohne</strong> Aufenthaltstitel ablehnte, mich anzumelden. Eine Frau erwähnte sogar, dass wennich wie<strong>der</strong>käme, sie nicht die Kosten für mich übernehmen müssten, da ich darauf keinen Anspruch hätte. Siesagte: „Sie müssen 2800 Euro zahlen und dann suchen wir für Sie eine Hebamme.“ Ich bin direkt insKrankenhaus gegangen. Lei<strong>der</strong> war es dort nicht besser. Sie sagten mir Sachen wie „Warum bekommst du indiesem Land ein Baby?“ und die zuständige Person für die Eintreibung <strong>der</strong> Kosten bei Auslän<strong>der</strong>n drohte,mich in ein Flugzeug nach Uganda zu setzen. Sie sagte mir, dass ich 2800 Euro zahlen müsse und wennnicht, dann würde ich abgeschoben werden. Sie sagte, dass, wenn ich Fruchtwasser verlieren würde, ich nicht100. Die Anwesenheit eines Übersetzers geht mit einem signifikant höheren Anteil <strong>der</strong> berichteten Behandlungsverweigerung einher: 20,5 % gegenüber 12,7 %, p = 0,02.101. In einem System nach Beveridge (nach Lord Beveridge, 1879-1963, benannt), ist <strong>der</strong> Sozialversicherungsschutz universal, basiert auf <strong>der</strong> Solidarität und ist für die gesamteBevölkerung „<strong>von</strong> <strong>der</strong> Wiege bis <strong>zur</strong> Bahre“ gültig (zum Beispiel im Vereinigten Königreich, in Schweden, und in einigen Mittelmeerlän<strong>der</strong>n, die sich seit den siebziger Jahren<strong>von</strong> diesem Universalitätsprinzip haben inspirieren lassen (Spanien, Italien, Griechenland, Portugal).Bericht des European Observatory – Médecins du Monde 109