Bis zum Tod keine Unterkunft. H. war 56 Jahre alt und er lebte bereits seit zwanzig Jahren in denNie<strong>der</strong>landen. Er hatte we<strong>der</strong> eine Aufenthaltsgenehmigung noch eine Krankenversicherung. Er hatte keinenKontakt zu seiner Familie in Venezuela. Er arbeitete als Künstler und als Reinigungskraft, jedoch hatte er keinfestes Einkommen.Im Jahr 2006 wird bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert. H. wird in ein Krankenhaus eingewiesen und operiert:Man entfernt ihm den größten Teil eines Lungenflügels; er bekommt Strahlentherapie. Nach diesem<strong>medizinischen</strong> Eingriff geht es H. für einige Zeit besser, bis zum Beginn des Jahres 2008, wo er beginnt, sichsehr schlecht zu fühlen. Er wird im Krankenhaus untersucht. Die Ergebnisse deuten auf einen Krebs-Rückfallhin: Der Rest <strong>der</strong> Lungenflügel, die Lenden und die Leber sind betroffen. Die Ärzte können nichts mehr für H.tun, <strong>der</strong> sich <strong>von</strong> da an im Endstadium befindet und nur noch wenige Monate zu leben hat. H. kann nicht imKrankenhaus bleiben. Er muss nach Hause <strong>zur</strong>ück und sich mit Schmerzmitteln behandeln.H. hat jedoch keinen festen Wohnsitz, er ist obdachlos. Er will an einem ruhigen und friedlichen Ort sterben, erdenkt an ein Hospiz. Es existiert eine Vielzahl <strong>von</strong> Hospizen im Viertel, es ist jedoch sehr schwierig, dort einenPlatz zu bekommen, da er keine Krankenversicherung hat und da er selbst die Kosten nicht zahlen kann. DasKrankenhaus schickt H. zu einem gemeinnützigen Verband für Obdachlose, <strong>der</strong> sehr weit <strong>von</strong> <strong>der</strong> Stadtentfernt ist, in <strong>der</strong> H. lebt. Der Verband erklärt sich einverstanden, ihn während des Endstadiumsaufzunehmen. H. ist entsetzt darüber, dass er die letzten Tage seines Lebens weit weg <strong>von</strong> seiner Stadt und<strong>von</strong> seinen Freunden verbringen soll. Aus diesem Grund entschließt er sich, dort nicht hinzugehen.H. wird aus dem Krankenhaus hinausgeworfen. Er wird mit all seinen Sachen und einem Vorrat anMedikamenten für zwei Tage auf die Straße gesetzt. Er kann nicht mehr gehen und kann sich nicht alleinfortbewegen. Einem Freund gelingt es, ihm einen Rollstuhl zu besorgen und er setzt ihn in einerAufnahmeeinrichtung für Obdachlose ab, welches zustimmt, ihn für ein paar Tage aufzunehmen. Dort kannsich niemand wirklich um ihn kümmern und H. kann nicht hinaus, da er sich im zweiten Stock befindet undes keinen Aufzug gibt.Dank des Einsatzes <strong>von</strong> Freunden und den Organisationen <strong>zur</strong> Unterstützung erklärt sich ein Hospiz in <strong>der</strong>Stadt, in <strong>der</strong> H. lebt, dazu bereit, ihn aufzunehmen, obwohl er nicht versichert ist. Dank des Netzwerks <strong>von</strong>Médecins du Monde wird er palliativ versorgt und es wird ein Rechtsverfahren aufgenommen, um demHospiz und an<strong>der</strong>en Mitarbeitern die Kosten für die geleisteten Versorgungen <strong>zur</strong>ückzuerstatten. Einige Tagenach seiner Ankunft im Hospiz verstirbt H.Während seiner letzten Lebenstage hat sich H. gewünscht, dass seine Erfahrungen dazu dienen können,palliative Versorgungen für Menschen <strong>ohne</strong> Aufenthaltstitel in den Nie<strong>der</strong>landen zu verbessern. Er wollteaußerdem, dass das Krankenhaus erkennt, dass er nicht auf die Straße hätte gesetzt werden sollen und dasses sich bemüht, nie wie<strong>der</strong> so zu handeln. „Man kann Menschen so nicht behandeln, noch weniger, wennsie schwer erkrankt sind und ihnen nicht mehr viel Zeit zum Leben bleibt.“ H., Venezolaner, 56 Jahre, lebte inden Nie<strong>der</strong>landen.66Bericht des European Observatory – Médecins du Monde
• WohnverhältnisseDie befragten Migranten sind weiterhin <strong>von</strong> einem weiteren speziellen Problem betroffen, das mitUnterkunftsbedingungen zusammenhängt: - <strong>der</strong> Überbelegung <strong>der</strong> Unterkünfte. Es existieren mehrere Methoden, umdies zu berechnen. Wir haben hier die Definition angewandt, die annimmt, dass eine Unterkunft überbelegt ist, wenn sieweniger als ein Zimmer (Hauptzimmer) pro Person aufweist 44 . Insgesamt betrifft die Überbelegung <strong>der</strong> Unterkunft, unterAusschluss <strong>der</strong> Einrechnung <strong>von</strong> wohnungslosen Personen, 68 % <strong>der</strong> befragten Personen (<strong>ohne</strong> signifikanteUnterschiede bei Geschlecht o<strong>der</strong> Alter).Die Personen, die in einer Unterkunft für Obdachlose o<strong>der</strong> in einer unsicheren Unterkunft leben, sind da<strong>von</strong> noch mehrbetroffen als die an<strong>der</strong>en: Drei Viertel <strong>von</strong> ihnen sind mit dem Problem <strong>der</strong> Überbelegung konfrontiert.38- Anteil <strong>der</strong> Personen, die in einer überbelegten Unterkunft leben - nach Unterkunftssituation dargestellt (in %)%Kurz- bis mittelfristig in einer Unterkunft für Obdachlose 73,8Unsichere Unterkunft 74,7Beständige Unterkunft 62,9Sonstige Situation (wohnungslose Personen nicht eingeschlossen) 46,4Gesamtstichprobe (wohnungslose Personen nicht eingeschlossen) 67,9Es lässt sich überdies feststellen, dass <strong>von</strong> den Personen, die mit ihren min<strong>der</strong>jährigen Kin<strong>der</strong>n zusammenleben (o<strong>der</strong>mit einigen <strong>von</strong> ihnen), 86 % in einer überfüllten Unterkunft leben, obwohl man weiß, dass die Überbelegung dieGefahr birgt, Folgen für die Entwicklung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Heranwachsenden zu haben: Mangel an Privatsphäre,Nichtvorhandensein eines ruhigen Ortes für die Schularbeit, Fehlen eines Platzes, um Freunde einzuladen etc. InSchweden beobachtete das Team Fälle, in denen Babys überfüttert wurden, um zu verhin<strong>der</strong>n, dass sie die an<strong>der</strong>enBew<strong>ohne</strong>r <strong>der</strong> Unterkunft nicht aufwecken. In den Nie<strong>der</strong>landen scheint die Situation <strong>der</strong> Überbelegung am wenigstensgravierend zu sein.39- Anteil <strong>der</strong> Personen, die in einer überbelegten Unterkunft leben - nach Land dargestellt, in dem die Umfragedurchgeführt wurde (in %)BE EL ES FR NL SE UK Gesamtstichprobe*59,4 70,5 60,6 79,4 50,0 78,4 76,4 67,9* Wohnungslose Personen und Italien nicht eingeschlossen: Anhand <strong>der</strong> in Italien erfassten Daten konnte die Überbelegung <strong>der</strong> Unterkünfte nicht errechnet werden.Es wurden weiterhin mehrere Fragen hinsichtlich einiger materieller Eigenschaften <strong>der</strong> Unterkünfte gestellt. So leben4 % <strong>der</strong> Personen in einer Unterkunft <strong>ohne</strong> Elektrizität und <strong>der</strong>selbe Anteil in einer Unterkunft <strong>ohne</strong> Wasser, 5 %<strong>ohne</strong> Toiletten und 16 % <strong>ohne</strong> Heizung, darin eingeschlossen sind Län<strong>der</strong>, in denen die Temperaturen im Wintersehr niedrig sein können: 5 % in den Nie<strong>der</strong>landen, 8 % in Belgien, 12 % in Frankreich 45 . 6 % <strong>der</strong> Befragten verfügen inihrer Unterkunft über keinen Herd o<strong>der</strong> einen Kocher.40- Wohnverhältnisse entsprechend <strong>der</strong> Situation hinsichtlich <strong>der</strong> Unterkunft (in %)*Kurz-/mittelfristig in einerUnterkunft für Obdachlose Unsichere Unterkunft Beständige Unterkunft ZusammenKeine Heizung 16,0 18,6 11,6 15,6Kein Herd/Kocher 16,3 8,0 1,6 5,6Keine Toiletten - 8,0 1,6 4,7Keine Elektrizität - 8,0 0,9 3,9Kein fließendes Wasser - 7,5 1,4 3,8• Diese Fragen wurden wohnungslosen Personen nicht gestellt; die Angaben <strong>zur</strong> die Kategorie „sonstige Wohnsituation“ werden wegen ihrer niedrigen Anzahl <strong>der</strong> Befragtennicht dargestellt, jedoch in <strong>der</strong> Berechnung <strong>der</strong> Gesamtheit <strong>der</strong> Stichprobe berücksichtigt.44. Definition wird üblicherweise vom Französischen Institut für Statistik und Wirtschaftsplanung (Insee) verwendet, auch wenn wir uns darüber im Klaren sind, dass sich dieseSchwelle <strong>von</strong> den Normvorstellungen einiger Befragter hinsichtlich dessen unterscheiden kann, was eine akzeptable Unterkunft ist.45. Die Frage <strong>zur</strong> Heizung in <strong>der</strong> Unterkunft wurde in Schweden nicht gestellt.Bericht des European Observatory – Médecins du Monde 67