Frau S.-D. lebt seit neun Jahren mit ihrem Sohn in <strong>der</strong> Schweiz. Sie bedauert den Stress, den er aufgrund ihresillegalen Aufenthaltes erleiden muss, betont jedoch, dass die Situation in ihrem Herkunftsland schlimmerwäre. Der Krieg hat ihre Familie zerstreut und ihre Lebensbedingungen dort waren gefährlich: Sie hatte sichdort eine kleine Wohnung mit Personen gemietet, die Alkoholiker waren und an psychiatrischen Krankheitenlitten. Ihr Sohn hätte wahrscheinlich Drogen genommen und wäre womöglich „nur wegen seiner Jackeangegriffen worden, die noch nicht einmal neu war“. Frau S.-D., lebt seit neun Jahren mit ihrem Sohn im Alter<strong>von</strong> 15 Jahren in <strong>der</strong> Schweiz.• Gesundheitszustand und soziale SituationAuch wenn mehrere Personen einen Einfluss ihrer Lebensbedingungen auf den eigenen Gesundheitszustand undden ihrer Kin<strong>der</strong> erwähnen, stellen hingegen einige fest, dass ein schlechter Gesundheitszustand wie<strong>der</strong>um dazubeitragen kann, die soziale Situation <strong>der</strong> Familie zu verschlimmern. Diese Gefahr besteht bei je<strong>der</strong> Person,unabhängig da<strong>von</strong>, ob sie eingewan<strong>der</strong>t ist o<strong>der</strong> nicht und unabhängig <strong>von</strong> ihrem sozialen Umfeld. Jedoch ist siebeson<strong>der</strong>s bei Einwan<strong>der</strong>ern <strong>ohne</strong> Aufenthaltsgenehmigung, <strong>der</strong>en Situation unsicher ist, <strong>der</strong>en soziale Unterstützunghäufig unbeständig ist, und bei denen die Hilfe <strong>von</strong> Seiten <strong>der</strong> öffentlichen Einrichtungen viel geringer ist als beian<strong>der</strong>en, beson<strong>der</strong>s groß.Wenn die Erwachsenen krank sind, kann dies zu einer Arbeitsunfähigkeit führen und somit zu einer Unfähigkeit, dasEinkommen zu sichern. Sind die Kin<strong>der</strong> krank, kann dies die sozialen Unterstützer übermäßig beanspruchen o<strong>der</strong>beispielsweise die Situation <strong>der</strong> Unterkunft bei Angehörigen verkomplizieren. Die Auswirkungen können im Prinzipalle Bereiche des sozialen Lebens betreffen.Im folgenden Beispiel tragen die gesundheitlichen Probleme des S<strong>ohne</strong>s <strong>von</strong> Frau V. <strong>zur</strong> Verschlechterung ihrer sozialenSituation bei, die aufgrund des fehlenden Anspruchs auf den Zugang zu medizinischer Versorgung und auf legale Arbeit<strong>ohne</strong>hin problematisch ist.> Frau V. ist aufgrund ihres illegalen Status und ihrer fehlenden finanziellen Mittel mitUnterkunftsschwierigkeiten konfrontiert. Diese Schwierigkeiten werden noch durch das Verhalten ihresS<strong>ohne</strong>s im Alter <strong>von</strong> 9 Jahren verstärkt, <strong>der</strong> autistisch ist, denn diese Probleme haben mehr als einmal diePersonen ausgelaugt, die sie untergebracht haben. Dadurch waren sie gezwungen, diese Orte jeweils zuverlassen und eine neue Unterkunft zu finden. Im Allgemeinen beeinträchtigt schon die Tatsache per se,keinen Aufenthaltstitel zu haben, ihre eigene Gesundheit und die ihrer Kin<strong>der</strong>. Wenn sie eine Versicherung fürGesundheits<strong>versorgung</strong>en hätte, dann hätte ihre Familie Zugang zu besseren Behandlungen gehabt,insbeson<strong>der</strong>e ihre Tochter, <strong>der</strong>en Hüftprobleme eine Behandlung bräuchten, die nicht vom nie<strong>der</strong>ländischenKostenübernahmesystem für Menschen <strong>ohne</strong> Aufenthaltstitel abgedeckt sind. Außerdem könnte sie, wenn sieeine Arbeitserlaubnis besäße, Geld verdienen und ihren Kin<strong>der</strong>n einen Ort für ein beständiges Leben bieten,einen geräumigen, würdevollen und heilsamen Ort für ihren autistischen Sohn bieten. Sie fasst zusammen:„Wenn dir alle Rechte verweigert werden, wenn du unter elenden Bedingungen lebst, wenn du um Geld undNahrung bettelst….wie kann das nicht deine Gesundheit beeinträchtigen?“ Frau V., Nigerianerin, seit elfJahren in den Nie<strong>der</strong>landen, lebt mit ihren zwei Kin<strong>der</strong>n im Alter <strong>von</strong> 7 und 9 Jahren zusammen.124Bericht des European Observatory – Médecins du Monde
3. DIE ODYSSEEN DER ELTERN IM GESUNDHEITSSYSTEM• Eltern im Umgang mit dem GesundheitssystemDie Analyse <strong>der</strong> Erfahrungsberichte und Gespräche zeigt, dass sich drei Arten hinsichtlich des Umgangs <strong>der</strong> Eltern mit<strong>der</strong> <strong>medizinischen</strong> Versorgung ihrer Kin<strong>der</strong> herauskristallisieren lassen 115 .• Orientierungslosigkeit: Unter diese Überschrift fällt das Verhalten <strong>von</strong> Personen, die sich im Gesundheitssystemund/o<strong>der</strong> im Verwaltungsapparat des Landes „verloren“ fühlen. Sie kennen we<strong>der</strong> ihre Rechte noch die ihrerKin<strong>der</strong> hinsichtlich des Zugangs <strong>zur</strong> <strong>medizinischen</strong> Versorgung. Für ihre Kin<strong>der</strong> suchen sie sehr selten imGesundheitswesen tätige Personen auf – im Allgemeinen nur im Notfall.• Anpassung: Hiermit ist die Vorgehensweise <strong>von</strong> Personen gemeint, denen es gelingt, ihre Kin<strong>der</strong> durch dieInanspruchnahme <strong>von</strong> <strong>medizinischen</strong> Leistungen zu behandeln zu lassen, etwa so häufig, wie sie dies alsnotwendig erachten, dies jedoch nicht <strong>ohne</strong> dabei im unterschiedlichen Maße Schwierigkeiten ausgesetzt zusein (Hin<strong>der</strong>nisse, die eigenen Hemmungen etc.).• Integration: Diese Kompetenz zeigen Personen, die keine beson<strong>der</strong>en Probleme hinsichtlich <strong>der</strong> Übernahmeihrer Kin<strong>der</strong> in eine Behandlung empfinden. Dem liegen eine gute Kenntnis und kompetente Beherrschungdes Gesundheitssystems des Landes und des Krankenversicherungssystems für die Kin<strong>der</strong> <strong>von</strong> Einwan<strong>der</strong>ern<strong>ohne</strong> Aufenthaltsgenehmigung zugrunde.Ziel dieser Typologie ist es nicht, Personen <strong>ohne</strong> Aufenthaltstitel kategorisch einzustufen. Sie ermöglicht es jedoch, zuverstehen, wie sie das Erlangen <strong>von</strong> medizinischer Versorgung für ihre Kin<strong>der</strong> erleben, indem starke Verhaltenstypenausgemacht werden können, wohlwissend, dass sich die Typologie manchmal <strong>von</strong> Gesundheitsproblem zuGesundheitsproblem unterscheidet und vor allem, dass sie sich insbeson<strong>der</strong>e entsprechend <strong>der</strong> bisherigenAufenthaltsdauer im jeweiligen und <strong>der</strong> sukzessiven Erfahrungen bei <strong>der</strong> Inanspruchnahme des Gesundheitssystemsverän<strong>der</strong>t. Mehrere befragte Personen berichten, dass alle drei Stufen seit ihrer Einreise in das Land durchlaufenhaben: Zuerst waren sie orientierungslos und wussten nicht, was zu tun war, dann haben sie nach und nach gelernt, sich<strong>zur</strong>echtzufinden und das Recht ihrer Kin<strong>der</strong>, Zugang <strong>zur</strong> <strong>medizinischen</strong> Versorgung zu erhalten, geltend gemacht, sodass einige keine beson<strong>der</strong>en Schwierigkeiten mehr hinsichtlich <strong>der</strong> (mindestens üblichen) notwendigenKonsultationen und Behandlungen ihrer Kin<strong>der</strong> empfinden.> Der Sohn <strong>von</strong> Frau U. ist in Marokko geboren, wo man bei ihm ein nephrotisches Syndrom diagnostizierte,als er 2 Jahre alt war. Er ist in Behandlung. Frau U. bekommt jedoch die Grenzen <strong>der</strong> geleistetenGesundheits<strong>versorgung</strong>en in Marokko grausam zu spüren und beschließt, mit ihm nach Frankreich zugehen. Infolge einer Verpflichtung, das Gebiet zu verlassen, lässt sie sich bei ihren Schwiegereltern in denNie<strong>der</strong>landen nie<strong>der</strong>. Während <strong>der</strong> ersten Monate in Amsterdam konsultiert sie für ihren Sohn keinen Arzt. IhreSchwiegereltern erklären ihr, dass er keinen Zugang <strong>zur</strong> <strong>medizinischen</strong> Versorgung hat, da er keinenAufenthaltstitel besitzt. Sie selbst kennt das nie<strong>der</strong>ländische Gesundheitssystem nicht, spricht keinnie<strong>der</strong>ländisch und hat keine an<strong>der</strong>e Unterstützung außer durch ihre Familie. Sie gibt ihrem Sohn daherweiterhin die in Marokko verschriebenen Medikamente, die sie <strong>von</strong> Landsleuten mitbringen lässt. SiebenMonate nach ihrer Ankunft, hat er einen „Anfall“. Beunruhigt wendet sich Frau U. an eine medizinischeEinrichtung für benachteiligte Personen, die sie an ein Krankenhaus weiterleiten. Mit großen Schwierigkeitengelingt es ihr, dort einen Arzt zu treffen, <strong>der</strong> das Kind abhorcht und ihr dann einen Brief mit <strong>medizinischen</strong>Empfehlungen mitgibt, <strong>der</strong> an einen Arzt in Marokko zu übermitteln ist: „Man wird ihnen helfen, jedoch inihrem Land! Ihr Sohn hat „wie<strong>der</strong>holte Anfälle“ und so wenden sie sich häufig an das Krankenhaus undtreffen dort diesen Arzt, <strong>der</strong> „immer noch so unfreundlich“ ist.115. Die Prototypen dürfen nicht als die exakte Wie<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong> Situation <strong>der</strong> Personen verstanden werden, son<strong>der</strong>n als starke charakteristische Tendenzen – dieseUnterscheidung bietet ein Instrument für die Verständlichkeit <strong>der</strong> Erfahrungen, die die Migranten <strong>ohne</strong> Aufenthaltstitel in Bezug auf die Übernahme ihrer Kin<strong>der</strong> inmedizinische Versorgung erlebt haben.Bericht des European Observatory – Médecins du Monde 125