Schöne neue Demokratie - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Entsprechend äußert eine der Kulturschaffenden: »Ich glaube, das ist wahrscheinlich<br />
der einzige Luxus, den ich habe – ich habe den Luxus, mich mit Fragestellungen<br />
und Dingen zu beschäftigen, die ich für mich immer wieder als Herausforderung<br />
empfinde.« 44 Gleichzeitig fühlen sie sich in einer »Dauerschleife<br />
von Selbstausbeutung und Unsicherheit« 45 – unentgeltlich geleistete Projekterfindung,<br />
Beantragung, Lobby-Arbeit, dann ggf. bezahlte Durchführung, gleichzeitig<br />
muss der Prozess schon von <strong>neue</strong>m losgehen. Prekarität als Herausforderung zu<br />
erleben, bedeutet gleichzeitig, dass die Gescheiterten »unversehens auf der Seite<br />
der ›Unengagierten‹« landen – das Scheitern wird fast immer auf sich selbst zurückbezogen«<br />
46 .<br />
Dem Aktivierungsgedanken entsprechend, ist Untätigkeit und Arbeitslosigkeit<br />
ein Problem mangelnden Engagements und mangelnder Aktivierung. Unter den<br />
<strong>neue</strong>n Hartz-Gesetzen müssen die Arbeitssuchenden von sich aus nachweisen,<br />
was sie zur Erlangung einer <strong>neue</strong>n Arbeit getan haben. Dadurch ist die Nahelegung<br />
produziert, die Arbeitsmarktprobleme seien im Prinzip durch Eigeninitiative aus<br />
dem Weg zu räumen, sie werden damit klar personalisiert und in die Verantwortung/<br />
Schuld der Einzelnen gestellt. In einem Interview mit einer Ostberliner Psychiaterin,<br />
die aus ihrer Praxis von einer Vielzahl von Depressionen und anderen psychischen<br />
Erkrankungen berichtet, die nach 1990 explosionsartig ausgebrochen<br />
sind, schildert sie den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und psychischer Destabilisierung<br />
bei ihren Klientinnen. Besorgte oder mitleidige Nachfragen von<br />
Familie und Freundeskreis werden zunehmend als unerträglich empfunden und<br />
führen zu einem sozialen Rückzug. Die Individualisierung der Schuld, die Verknüpfung<br />
von Misserfolg und mangelndem Engagement ist bei den Betroffenen<br />
voll angekommen: »Du glaubst es nicht, es sind Leute dabei, die bringen mir ihre<br />
Aktenordner mit, mit ihren hunderten von Bewerbungen, weil sie mir zeigen wollen,<br />
was sie gemacht haben, dass sie nicht schwindeln und dass sie sich wirklich<br />
Mühe gegeben haben.« 47<br />
Vergleichbar versuchen die Kulturschaffenden dauernd von »geplanten oder<br />
bevorstehenden Projekten zu berichten, um ja nicht den Eindruck zu erwecken,<br />
man befinde sich in einer Notsituation und suche verzweifelt nach einer Anschlussmöglichkeit,<br />
denn bedürftig zu sein und zu wirken kann […] die Chancen, die<br />
man auf dem Markt der symbolischen Güter hat, empfindlich reduzieren.« 48<br />
Die Kulturschaffenden haben zu ihrem Status und den sich wandelnden Anforderungen<br />
des Kulturmarktes durchaus eine kognitive Distanz – die sich schon in<br />
ihrem selbstironischen Umgang zeigte – sie reflektieren die prekären Lebens- und<br />
44 Daniela Böhmler; Peter Scheiffele: Überlebenskunst in einer Kultur der Selbstverwertung. A. a. O., S. 443.<br />
45 Ebenda, S. 439.<br />
46 Ebenda, S. 442.<br />
47 Margarete Steinrücke: Soziales Elend als psychisches Elend. In: Franz Schultheis und Kristina Schulz (Hrsg.):<br />
Gesellschaft mit begrenzter Haftung. A. a. O., S. 203.<br />
48 Daniela Böhmler; Peter Scheiffele: Überlebenskunst in einer Kultur der Selbstverwertung. A. a. O., S. 443.<br />
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