Schöne neue Demokratie - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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3. Es ist zu analysieren, in wieweit der, wie geschildert, kritisch inspirierten<br />
Konzeption der »Pathologie des Normalen«, die Tendenz innewohnt, den Pathologiebegriff<br />
so aufzublähen, das letztlich doch im allgemeinen »Wahn« Gesellschaft<br />
und Individuen in psychologistischer Manier verschmelzen.<br />
Meine These ist nun, wie ja schon angedeutet, dass die neoliberale Umstrukturierung,<br />
wie sie sich vor allem in den Veränderungen der Arbeitsverhältnisse und<br />
des Sozialsystems zeigt (vgl. etwa Seppmann 2005, Wolf 2005, Ferchland 2005),<br />
psychologisierendes Denken wesentlich plausibler macht, als es ohnehin schon<br />
war.<br />
Auffällig ist dabei, dass in dieser aktuellen Psychologisierung die Gesellschaft<br />
nicht mehr ausgeklammert werden muss, sondern als integraler Bestandteil psychologisierenden<br />
Denkens fungiert: Die vielfältig vermittelte Gesellschaft(lichkeit)<br />
wird nach dem Muster einer unmittelbaren Gemeinschaft dargestellt, wobei dann<br />
Globalisierung nur heißt, dass es überall auf der Welt (die ja »ein Dorf« geworden<br />
ist) so zugeht. Die Parole »Du bist Deutschland« spitzt das nur ebenso blöde zu<br />
wie die triumphale Versicherung »Wir sind Papst«.<br />
Die Verantwortung der Einzelnen für sich und das Ganze reduziert dieses auf<br />
ein natürlich klassenloses Beziehungsgeflecht. Man könnte fast meinen, Marx hätte<br />
sich dagegen prophylaktisch gewehrt, als er im »Kapital« schrieb: »Weniger als<br />
jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation<br />
als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen<br />
verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er<br />
sich auch subjektiv über sie erheben mag.« 23<br />
Und in eben diesem Sinne stellt Engels (1886) klar: »Wenn ich in dem Sinne<br />
wie hier und anderwärts von der Gesellschaft als einer verantwortlichen Gesamtheit<br />
spreche, die ihre Rechte und Pflichten hat, so versteht es sich, daß ich damit<br />
die Macht der Gesellschaft meine, diejenige Klasse also, die gegenwärtig die politische<br />
und soziale Herrschaft besitzt und damit zugleich auch die Verantwortlichkeit<br />
für die Lage derer trägt, denen sie keinen Teil an der Herrschaft gibt.« 24<br />
Demgegenüber kommt die psychologisierende Diffusion von Verantwortung,<br />
auch wenn sie kritisch gemeint ist, etwa in folgenden Passagen bei Ute Osterkamp<br />
zum Ausdruck, wenn sie schreibt, dass »die Verantwortung für die Flüchtlingspolitik<br />
… alle trifft« 25 bzw. »dass die Verantwortung für die offizielle Abschreckungspolitik<br />
... bei uns allen liegt« 26 . Wenig später konstatiert sie, dass die »gängigen<br />
22 Werner Seppmann: Dynamik der Ausgrenzung. Über die soziostrukturellen Konsequenzen der gesellschaftlichen<br />
Spaltungsprozesse. In: Utopie kreativ 179 (September 2005), S. 781 – 795; Michael Wolf: »Aktivierende Hilfe«.<br />
Zu Ideologie und Realität eines sozialpolitischen Stereotyps. In: Utopie kreativ 179 (September 2005), S. 796 –<br />
808; Rainer Ferchland: Ein regierungsamtliches Paradoxon. Zum Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der<br />
Bundesregierung. In: Utopie kreativ 179 (September 2005), S. 809 – 818.<br />
23 Karl Marx: Das Kapital. Erster Band. In: MEW, Bd. 23, S. 16.<br />
24 Friedrich Engels: Lage der arbeitenden Klasse in England. In: MEW, Bd. 2, S. 324 (Fußnote zur Ausgabe von<br />
1886).<br />
25 Ute Osterkamp: Rassismus als Selbstentmächtigung. Hamburg 1996, S. 56.<br />
26 Ebenda.<br />
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