Schöne neue Demokratie - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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psychologischen Theorien« »von der individuellen Verantwortung für das Verhalten<br />
der jeweils anderen ablenken« 27 . Hier wird die Absurdität der Verantwortung<br />
aller Einzelnen für gesellschaftliche Zustände konkretisiert auf die Verantwortung<br />
eines jeden für den jeweils anderen – mit der aparten Folge, dass eigentlich keine(r)<br />
mehr für sich verantwortlich sein kann, weil es ja jemand anders schon ist,<br />
gleichwohl alle verantwortlich sind. Die psychologisch relevante Frage, inwieweit<br />
ich das Verhalten anderer so beeinflusse, dass ich dafür mit verantwortlich bin,<br />
kann so als offene Frage gar nicht mehr gestellt werden. Den Vergewaltiger, der<br />
sich eingeladen sieht, wird’s freuen.<br />
Unbeschadet solcher Ungereimtheiten impliziert die Verantwortungsuniversalisierung<br />
eine Verstrickung, aus der Befreiung nicht mehr gedacht werden kann:<br />
Denn auch wenn ich mich bspw. bis an die Grenzen meiner Möglichkeiten gegen<br />
Rassismus oder barbarische Flüchtlingspolitik einsetze, bleibt ja das Problem,<br />
dass es – sozusagen ohne Ende – weitere Probleme gibt, gegen die ich dann nichts<br />
unternehmen kann – etwa Gewalt gegen Kinder, neo-imperialistische Kriege,<br />
Fleischskandale, AIDS-Politik, religiöse Umtriebe, etc. Trotzdem soll ich dafür<br />
verantwortlich sein. Meine so existenziell gegebenen wie strukturell uneinlösbare<br />
Verantwortung haftet mir an wie die Erbsünde in der katholischen Kirche – nur<br />
dass es im psychologistischen Verantwortungsuniversum nicht einmal die Taufe<br />
gibt.<br />
Ähnliche Probleme bringt der Verantwortungsdiskurs in der Aufarbeitung von<br />
Geschichte mit sich, sofern er die kritisierte horizontale oder synchrone Entgrenzung<br />
der Verantwortung durch eine vertikale oder diachrone Entgrenzung ergänzt<br />
und bei den so Beschuldigten jenen Reflex nach dem »Schlussstrich« nahe legt,<br />
welcher mit einer strukturell informierten Argumentation nicht zu kriegen ist. Um<br />
es provokatorisch zuzuspitzen: Heute 20-Jährige als »Täterenkel« in eine Verantwortungshaftung<br />
zu nehmen, ist so sinnvoll, wie mir eine Verantwortung am<br />
Ersten Weltkrieg anzudienen. 28 Anders und allgemein: Mit dem Mittel derartiger<br />
Psychologisierungen dürfte eine Politisierung von Jugendlichen kaum klappen.<br />
Entgegen dem – ggf. intentionswidrig bedienten und beförderten – psychologistischen<br />
Paradigma der Deutung gesellschaftlicher Zustände, das Politiker/innen<br />
natürlich – interessiert – allenthalben im Munde führen, um sich zu entlasten und<br />
sich mit dem von ihnen dazu gemachten »kleinen Mann« gemein zu machen,<br />
muss eine kritische Psychologie darauf bestehen, dass individuelle Verantwortung<br />
nicht strukturell diffundiert 29 .<br />
27 Ebenda, S. 59.<br />
28 Wenn schon, würde ich persönlich dann lieber die Mitverantwortung für die Gründung des Spartakusbundes<br />
übernehmen.<br />
29 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Aufkommen Haftungs- und Versicherungsüberlegungen gerade<br />
dazu diente. Individuelle Unsicherheiten und Verantwortlichkeiten zu reduzieren, sei es bezüglich der Folgen<br />
von Handlungen (etwa Haftpflichtversicherung), sei es bezüglich kontingenter Ereignisse (etwa Hausratsversicherung),<br />
und dass demgegenüber der Abbau des Sozialstaates die Verantwortung des Einzelnen faktisch<br />
wieder ausdehnt – ideologisch gestützt eben dadurch, dass der kritisierte Verantwortungsdiskurs Verantwortung<br />
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