Schöne neue Demokratie - Rosa-Luxemburg-Stiftung
Schöne neue Demokratie - Rosa-Luxemburg-Stiftung
Schöne neue Demokratie - Rosa-Luxemburg-Stiftung
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
spektlosigkeit gegenüber allen Religionen, Spiritualismen und Metaphysiken ist<br />
ein Merkmal aufgeklärter Lebensverhältnisse. Denn sie alle bedrohen durch Innerlichkeitsbedürfnis,<br />
durch Gewissheitsglauben, durch die Anerkennung einer<br />
letzten Instanz und eine damit verbundene autoritäre Haltung die demokratische,<br />
durch öffentliche Diskussionen geprägte Kultur, die Rechte der Meinungs-,<br />
Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Im Namen des Respekts vor der Religion wird<br />
der Respekt vor der Freiheit der Individuen gefährdet.<br />
Unkonventionelle Beteiligungsformen in der Zeit seit den 1960er Jahren wurden<br />
vielfach begrüßt. Dies galt als Etablierung einer demokratischen Kultur, in denen<br />
die Orientierungen ihren Halt finden können, die auch die formellen Prozesse<br />
demokratischen Entscheidens tragen. Denn immer wieder wurde in Deutschland<br />
befürchtet, dass die Bindung an die <strong>Demokratie</strong> oberflächlich sei und ihr im Krisenfall<br />
die Loyalität entzogen werde. Diese Gefahr wurde in vordemokratischen<br />
Dispositionen gesehen. Doch soll man sich nicht täuschen, nach wie vor überwiegen<br />
in der Öffentlichkeit die Vorbehalte gegen »die Straße« als Medium der politischen<br />
Wortergreifung. Von ihren Gegnern werden im Fall unkonventioneller Politikformen<br />
die Rechte und die Linke immer noch gleichgesetzt, die Druck von der<br />
Straße auf die Politik ausüben wollen. Es gilt als eine Qualität von Politikern, sich<br />
als nicht erpressbar zu erweisen. In beiden Fällen soll es sich um eine oberflächliche<br />
Anpassung und einen bloß taktischen Gebrauch der bürgerlichen Freiheitsrechte<br />
handeln.<br />
Das Totalitarismusschema hält sich, obwohl es historisch und soziologisch<br />
falsch ist. Historisch, weil die Nationalsozialisten in formellen Wahlen die größte<br />
Fraktion des Reichstags wurden, eine von den konservativen bürgerlichen Regierungen<br />
unterstützte Bürgerkriegspolitik forcierten und schließlich von den anderen<br />
bürgerlichen Parteien und vom Reichspräsidenten gestützt wurden. Reichskanzler<br />
Papen machte dies im November 1932 sehr deutlich, wenn er auf die zwei<br />
großen Lager in Deutschland hinwies: »Auf der einen Seite die Marxisten aller<br />
Schattierungen [also nicht nur KPD, der tatsächlich eine keineswegs zu verharmlosende<br />
polarisierende und demokratiefeindliche Politik vorzuwerfen wäre; A. D.],<br />
auf der anderen Seite der Rest des deutschen Bürgertums. Wie hatten wir seinerzeit<br />
den Kampfruf Hitlers: »Gegen Marxismus und für die nationale Er<strong>neue</strong>rung«<br />
begrüßt!« 3 Soziologisch ist es falsch, weil empirische Studien seit den späten<br />
1960er Jahren immer wieder zeigen konnten, dass Linke demokratische Prinzipien<br />
genauer verstehen, ihnen in höherem Maße zustimmen als andere Teile des<br />
politischen Spektrums und bereit sind, für sie einzustehen. 4<br />
Das Totalitarismusschema operiert mit der Annahme einer Normalverteilung.<br />
An den Rändern, wo die Kurve flacher wird, sollen sich links und rechts gleichermaßen<br />
die Feinde der <strong>Demokratie</strong> finden. Dieses Schema ist selbst formalistisch<br />
3 Zitiert nach: Dirk Blasius: Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930-1933, Göttingen 2005, S. 126.<br />
4 Vgl.: Alex Demirovic; Gerd Paul: Demokratisches Selbstverständnis und die Herausforderung von rechts. Student<br />
und Politik in den neunziger Jahren. Frankfurt/New York1996<br />
61