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LITERARISCHE LESE IN FRANKEN-www-final

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Literarische<br />

<strong>LESE</strong> 2016<br />

in Franken<br />

Das Beunruhigende an PISA waren aber nicht nur die mageren Ergebnisse.<br />

Beunruhigend war auch, dass PISA eine für viele befremdliche Vorstellung vom Lesen<br />

beinhaltete. Lesen, das war für die PISA-Tester hauptsächlich das Verstehen von<br />

Sachtexten zur Bewältigung lebenspraktischer Anforderungen. Es ging in PISA<br />

darum, wie ein einzelner Leser aus einem Sachtext Informationen ermittelt, eine<br />

Gesamtdeutung entwickelt und Bewertungen gewinnt. Diese funktionalistische<br />

und kognitivistische Orientierung des Lesens erfuhr mit der PISA-Studie eine<br />

enorme Aufwertung und stand fortan im Zentrum des Interesses. Die Idee, dass<br />

Lesen auch literarisches Lesen ist, dass es auch der Subjektbildung dient und dass es<br />

sich auch in einem sozialen Rahmen vollzieht, geriet an den Rand und in den<br />

Hintergrund.<br />

Damit war aber auch einem hergebrachten Verständnis von Leseförderung die<br />

Grundlage entzogen, welche vor allem auf literarisches Lesen, auf Subjektbildung<br />

und Lesen als soziale Praxis orientiert war. In den 1990er Jahren und vor PISA<br />

verstand man unter Leseförderung vor allem die Anregung des Viellesens und des<br />

literarischen Lesens. Exemplarisch hierfür steht die Publikation Leseförderung und<br />

Leseerziehung aus dem Jahr 1993: 9 Sie enthält Beiträge „Zur Wirkung literarischer<br />

Texte“ (Sahr), zur „Entwicklung literarischen Verstehens“ (Spinner), zum<br />

„unendlichen Pumuckl“ (Seifert), zu klassischen Texten als Schullektüre (Hahn,<br />

Gebhard, Koß), zu Comics (Franzmann, Meier), über „Lyrische Texte als produktive<br />

Vorlagen“ (Schuster), zur „dramatischen Gestaltung fiktionaler Texte“ (Abraham),<br />

„Vorschläge für einen produktionsorientierten Literaturunterricht“ (Haas) oder zur<br />

„Buchdiskussion im Klassenzimmer“ (Braun). Eher am Rande fragte man nach<br />

funktionalem Analphabetismus (Binder), nach der tatsächlichen Lektüre von Kindern<br />

und Jugendlichen (Franz, Büll, Eisenbeiß, Stocker) und nach der „Auseinandersetzung<br />

mit Sachtexten und Schulbüchern“ (Bamberger).<br />

Leseförderung verstand sich hier als Anregung, als Motivation zum Lesen; Lesen war<br />

primär literarisches Lesen; und es sollte möglichst viel gelesen werden.<br />

Leseförderung in den 1990ern drehte sich vor allem um Leseanimation; es<br />

ging um möglichst lustvolles Viellesen von Literatur; es ging um die Züchtung<br />

von Leseratten und Bücherwürmern. Dass Kinder und Jugendliche lesen konnten –<br />

____________________<br />

9<br />

Beisbart Ortwin / Eisenbeiß, UIrich / Koß, Gerhard / Marenbach, Dieter (Hrsg.)<br />

(1993): Leseförderung und Leseerziehung. Theorie und Praxis des Umgangs mit<br />

Büchern für junge Leser. Donauwörth: Auer.<br />

Eröffnungsvortrag<br />

davon ging man selbstverständlich aus; ebenso von einer eingespielten und noch<br />

ungefährdeten Lesekultur: Es gab noch kein Amazon und dafür jede Menge kleiner<br />

Buchläden, es gab noch eine vergleichsweise überschaubare Medienkonkurrenz, über<br />

Comics und Trivialliteratur konnte man die Schüler an Höheres heranführen und das<br />

„Literarische Quartett“ im Fernsehen machte Literatur zum öffentlich-rechtlichen<br />

Anliegen. Technische Lesefertigkeiten, stabile Lesegewohnheiten und das Buch als<br />

Leitmedium konnten als feste Größen vorausgesetzt werden. Leseförderung diente<br />

vor allem der Bestandssicherung der literarischen Lesekultur und hatte insofern<br />

etwas von einem Luxusprojekt.<br />

Die PISA-Ergebnisse platzen wie ein Gewitter in diese Idylle. Denn offenbar hatten<br />

viele Jugendliche nicht nur wenig Vergnügen am Lesen, sondern auch elementare<br />

Lesedefizite. Die Frage war nun nicht mehr, was und wie viel die Heranwachsenden<br />

am besten lesen sollten, sondern ob sie in einem technischen Sinn überhaupt lesen<br />

können. Diese Frage hat seither an Brisanz nicht verloren. Und sie betrifft längst<br />

nicht mehr nur Grundschüler, Mittelschüler an sozialen Brennpunkten oder<br />

Migrantenkinder. Auch im Gymnasium, keineswegs nur in den unteren<br />

Jahrgangsstufen, erlebt man, dass Schüler und Schülerinnen einen Text nicht flüssig<br />

vorlesen können und Schwierigkeiten haben, über Gelesenes sinnvoll Auskunft zu<br />

geben.<br />

Das Dilemma einer Leseförderung, die sich vor allem als Anregung zum literarischen<br />

Lesen versteht, kann eine Analogie verdeutlichen. Nehmen wir an, wir wollen<br />

jemanden zum Fußballspielen anregen. Im Sinne der Leseförderung der 1990er Jahre<br />

würde man davon ausgehen, dass die Person bereits einen Ball am Fuß führen,<br />

passen, stoppen und schießen kann und es nur darum geht, die Spielfähigkeiten<br />

weiterzuentwickeln und die Freude daran zu steigern. Unsere Fußballförderung sieht<br />

also so aus: Wir treten mehreren Vereinen bei, wir stellen immer neue und schicke<br />

Ausstattung zur Verfügung (Bälle, Trikots, Schuhe), wir fahren jedoch Woche zu<br />

einem attraktiven Ligaspiel, zum Club in Nürnberg beispielsweise. All das ist schön<br />

und gut. Wenn aber jemand elementare Techniken nicht beherrscht, wird der<br />

dadurch kaum Anregung zum Fußballspielen erfahren – im Gegenteil wird er<br />

vielleicht sogar frustriert. Was nutzt ein Schuh wie der Nike Hypervenom Phantom II,<br />

wenn man keinen Spannstoß und keinen Innenrist kann?<br />

Die PISA-Ergebnisse machten klar, dass Leseförderung womöglich mit der Förderung<br />

elementarer Lesefertigkeiten zu beginnen hat. Dass Lesen solch elementarer<br />

Fertigkeiten bedarf, dass es aber andererseits nicht im funktionalen Zwecklesen<br />

aufgeht, hat zu einer mehrdimensionalen Vorstellung des Lesens und der<br />

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