LITERARISCHE LESE IN FRANKEN-www-final
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Literarische<br />
<strong>LESE</strong> 2016<br />
in Franken<br />
Eröffnungsvortrag<br />
Eröffnungsvortrag<br />
Menschen edler, hilfreicher und besser macht. 16<br />
Kehren wir noch einmal zurück zu Mario Götze und den Weg zum Glück. Schule steht<br />
in der Pflicht, jungen Menschen das Bildungsangebot Literatur zu machen. Wenn<br />
junge Menschen dieses Angebot annehmen und zu Lesern werden, so ist dies<br />
wunderbar. Aber der Deutschunterricht und die Leseförderung sind nicht gescheitert,<br />
wenn ein junger Mensch die Lesenacht seiner Schule verschläft, an Novellen aus dem<br />
19. Jahrhundert kein Vergnügen findet und stattdessen in einem Sachbuch den Weg<br />
zum Glück. Auch ohne literarisches Lesen hat man Aussichten, ein wertvoller Mensch<br />
mit einem guten Leben zu werden. (Nicht nur als Mario Götze.)<br />
In meinen Augen ist es ein pädagogisches Trugbild und eine soziale<br />
Anmaßung, dass man (womöglich: nur) durch das Lesen von Literatur ein<br />
reiches Innenleben mit Imagination und Kreativität und differenzierte<br />
Sozialbeziehungen mit Fremdverstehen und Empathie entwickeln kann.<br />
Ganz sicher kann man auch ohne Literatur zu einem reflektierten und<br />
sozialfähigen Menschen heranwachsen.<br />
Vergessen wir nicht: Das lesende Kind ist ein Produkt der Aufklärung, literarische<br />
Sozialisation als „Bücherbildung“ ist eine bürgerliche Norm. Setzt man relative<br />
Größen wie diese absolut, werden sie zu Ideologien. Und vergessen wir auch dies<br />
nicht: Lesen war nicht immer pädagogisch angesagt. Vor rund 250 Jahren galten<br />
„Lesewut“ und „Lesesucht“ als gefährlich. Den Pädagogen Johann Heinrich Campe<br />
besorgte, „die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen<br />
befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen.“ 17 (Das<br />
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16 „Wer Romane liest, hat mehr Einfühlungsvermögen – und Erfolg“, dies verheißt<br />
andererseits eine Metastudie zum vielfältigen Nutzen literarischen Lesens des<br />
kanadischen Kognitionspsychologen Keith Oatley (vgl. Endt 2016). Zu fragen ist<br />
bei Derlei jedoch stets, ob Kausalitäten oder nur Korrelationen vorliegen (z. B.<br />
beim Zusammenhang von Romanlesen und Schulerfolg). Zu fragen ist ggf. weiter<br />
nach der Richtung der Kausalwirkung: Hat man weniger kulturelle Vorurteile und<br />
mehr Empathie, weil man gerne Romane liest? Oder liest man gerne Romane, weil<br />
man keine kulturellen Vorurteile und mehr Empathie hat? Zudem weisen<br />
Forschungen offenbar auch darauf hin, dass ähnliche Effekte durch das Schauen<br />
von Filmen und hochwertigen Serien, sogar durch erzählerische Videospiele<br />
entstehen können (vgl. ebd.).<br />
17 http://de.wikipedia.org/wiki/Lesesucht (aufgerufen am 26.6.2016).<br />
Gemälde von „Die Lektüre“ von Pierre Antoine Baudouine um 1760 zeigt derart<br />
Müßiggang und Laster. 18 ) In seiner Klage Über die Pest der deutschen Literatur<br />
(1795) stellt Johann Georg Heinzmann fest, „dass die Romane wohl eben so viel im<br />
Geheimen Menschen und Familien unglücklich gemacht haben als es die so<br />
schreckbare französische Revolution öffentlich „thut“, und er klagt, dass „thierische<br />
Triebe der Wollust in unseren neu aufblühenden Geschlechtern durch die<br />
Romanlektüre außerordentlich verbreitet worden.“ 19 Auch am Ende des 18.<br />
Jahrhunderts gab es also neue Medien als vermeintliche Quelle schrecklicher Übel. Es<br />
waren: Bücher, es war die „Bücherfluth“, eine „Sündflut“, veritable „Lockspeisen des<br />
Satans.“ 20<br />
Gerade vor diesem mediengeschichtlichen Hintergrund sollten wir nicht den Anspruch<br />
erheben, dass nur Literaturleser wirklich gebildet sind und dass deshalb jeder ein<br />
Literaturleser werden muss – ein Anspruch, der ebenso anmaßend wie uneinlösbar<br />
ist. In der ersten PISA-Studie gaben 42% der Getesteten an, nicht zum Vergnügen zu<br />
lesen. Diese Zahl ist 2006 gesunken (34%), 2009 aber wieder auf 41% angestiegen.<br />
Ich verstehe die Aufregung darüber nicht: Es scheint mir nicht tragisch, wenn<br />
jemand nicht zum Vergnügen liest. Eine Deutschlehrerin oder ein Deutschlehrer, der<br />
nicht zum Vergnügen liest – das wäre tragisch. Da wäre eine Grenze erreicht. Da<br />
müsste man sagen: Ohne Lust am Lesen kannst du gerne zu Mehmet ins Sport-<br />
Fernsehen, aber bitte nicht in eine Schule.<br />
Machen wir also mit Verve Literatur als Bildungsangebot, seien wir anregende<br />
Literaturlehrerinnen und versierte Leseförderer, seien wir selbst begeisterte Leser und<br />
Leserinnen, und veranstalten wir Tage wie diesen, an denen die Lesekorken knallen!<br />
Vielen Dank.<br />
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18<br />
Lesende Frauen in lasziven Posen und in leichter Schürzung sind ein gängiger<br />
Topos in der Malerei, vgl. z. B. https://de.pinterest.com/pin/76913106106388269/<br />
(aufgerufen am 16.10.2016).<br />
19 Zit. nach Anz, Thomas (1998): Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen.<br />
München: Beck, S. 11; siehe auch Beisbart, Ortwin / Maiwald, Klaus (2001): Von<br />
der Lesewut zur Wut über das verlorene Lesen. Historische und aktuelle Aspekte<br />
der Nutzung des Mediums Buch. In: Maiwald, Klaus / Rosner, Peter (Hrsg.): Lust<br />
am Lesen. Bielefeld: Aisthesis, S. 99-129.<br />
20 http://<strong>www</strong>.medien-gesellschaft.de/html/lese-sucht.html (aufgerufen am<br />
26.6.2016).<br />
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