PDF-Format - Hans Joachim Teschner
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der Ausweis ja gezeitigt, allerdings nur durch den Witz und die Dreistig-<br />
keit des Schneiders.<br />
Mit einem Mal fuhr ein Schreck durch Rosalindes Glieder und ihre<br />
Kehle schnürte sich zusammen. Wenn Zippel ein Spion war, hatte er sich<br />
in die Höhle des Löwen begeben, und es war nur eine Frage der Zeit, bis<br />
er demaskiert wurde. Vielleicht schmachtete er schon jetzt in einem Ver-<br />
lies der Stachelburg!<br />
Die widerstreitenden Gefühle drohten Rosalindes Herz zu sprengen.<br />
Sie spürte eine große Zuneigung zu Zippel, aber es war ihr auch klar,<br />
dass sie selbst verloren war, würde sie ihm helfen. Dann würde er viel-<br />
leicht gerettet werden und in die Arme seiner Frau oder Freundin<br />
zurückkehren. Sie selbst aber müsste flüchten und bis an ihr Lebensen-<br />
de in der Fremde leben.<br />
Als der Abend anbrach, versuchte Rosalinde etwas zu essen, doch sie<br />
bekam, wie schon den ganzen Tag, keinen Bissen hinunter. Die Schatten<br />
der Nacht legten sich auf die Hütten und Gassen, doch Rosalinde zünde-<br />
te keine Kerze an, saß nur grübelnd und den Tränen nahe am Tisch.<br />
Um Mitternacht erhob sie sich. Sie hatte einen unwiderruflichen Ent-<br />
schluss gefasst. Sie würde Zippel helfen. Denn es war ihr klar geworden,<br />
dass sie ihn liebte. Mochte er zu Hause auch eine Frau haben, hier wür-<br />
de sie ihm beistehen. Es hätte für sie so oder so keinen Sinn mehr<br />
gemacht, in Stachelland weiterzuleben. Sie hatte sich hier noch nie rich-<br />
tig wohl gefühlt. In Zippels Nähe hatte sie zum ersten Mal eine Zunei-<br />
gung und eine Achtung vor ihrer Würde erfahren, die sie nicht mehr<br />
missen wollte. Jetzt hieß es zu handeln.<br />
Um sich vor der Kälte zu schützen, warf sich Rosalinde einen Umhang<br />
um und ging durch die düsteren Straßen zur Stachelburg. Das Tor war<br />
verschlossen. Einen zweiten Eingang gab es nicht. Ratlos schlich Rosalin-<br />
de um die Burg. Nirgends ein Fenster oder wenigstens ein Luke. Dro-<br />
hend ragten die schwarzen Stacheltürme in den wolkenzerfetzten Him-<br />
mel. Was nun? Sollte sie am Tor klopfen? Da vernahm sie ein leises Klir-<br />
ren auf dem steinigen Boden. Sie tastete sich zu dem Geräusch. Plötz-<br />
lich spürte sie etwas Kaltes, Metallisches, und sie griff beherzt zu. Ein<br />
dorniges eisernes Rädchen stach in ihre Hand, und sie konnte gerade<br />
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