PDF-Format - Hans Joachim Teschner

Der Stachelwurz
Bevor der erste Hahn in Stachelburg anhob, seine Weckrufe zu krä-
hen, waren schon zwei Aasgeier von den spitzen Stacheltürmen aufge-
flogen und kreisten nun über Rosalindes Hütte. Fette Beute schienen sie
in der armseligen Behausung zu vermuten, denn nach einigen Erkun-
dungsrunden landeten sie auf dem Dach der Hütte und gierten mit
scharfem Blick durch das schräge Dachfenster. Das Bild, das sich ihnen
bot, sah tatsächlich nach sicherer Beute aus: auf dem Bett Rosalindes
lag eine hünenhafte Gestalt, vollständig bewegungslos, kalt und steif.
Eine Decke aus unzähligen Flicken war über den leblosen Körper
gestreift und ließ nur ein leichenblasses Gesicht hervorschauen. Neben
der Bettstatt mühte sich ein kugelrunder muskulöser Mann ab, Leben in
die Totengestalt zu bringen. Ruhelos rubbelte er den kalten Körper mit
der Decke ab, dann wieder presste er den birnenförmigen Brustkorb, um
die Atemtätigkeit einzuleiten. Schließlich verabreichte er dem Wehrlosen
ein paar kräftige Ohrfeigen, um die Blutzirkulation anzuregen, eine
etwas fragwürdige Methode. Plumplum, der dazu dauernd hustete und
vor Heiserkeit nur krächzen konnte, wurde schließlich von Rosalinde
weggeschoben, die einen Becher mit dampfendem Kräutertee an die Lip-
pen des erstarrten Hübeldübel setzte. Tropfen für Tropfen flößte sie dem
Recken ein, der kein Lebenszeichen von sich gab. Mit einem Tuch, das
sie mit dem Kräutertee benetzt hatte, rieb sie seine Schläfen und seine
Stirn.
»Es gibt nur ein Medikament, das ihm noch helfen kann«, hustete
Plumplum, »und zwar ein halber Liter Muntermacher.«
»Was ist ein Muntermacher?« fragte Rosalinde.
»Och«, wand sich der Kugelbäuchige, »nur so ein bißchen Rum aus
Jamaika und viel Honig dazu.«
Rosalinde überlegte. »Vielleicht geht es ja auch mit unserem Stachel-
wurz. Aber ich habe keinen Honig mehr.«
»Stachelwurz?« entsetzte sich. Plumplum, »willst du ihn endgültig
vergiften?«
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