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PDF-Format - Hans Joachim Teschner

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»Wir Korinther«, belehrte ihn Zippel hochnäsig, »schreiben und lesen<br />

selbstverständlich von unten nach oben und von rechts nach links. Und<br />

zwar alles vor einem Spiegel. Außerdem, damit es nicht zu langweilig wird,<br />

nehmen wir die linke Hand. Wenn wir fertig sind, zerschneiden wir den<br />

Bogen und kleben die Schnipsel in einer falschen Reihenfolge zusammen.<br />

Wer also den Ausweis lesen will, muss den Schreibvorgang von hinten wie-<br />

derholen.«<br />

Mit dieser Erklärung nahm Zippel den Ausweis wieder an sich und zer-<br />

riss ihn in kleine Stücke. Dann klebte er die Schnipsel mit Spucke wieder<br />

aneinander, aber in einer anderen Reihenfolge. Schließlich lieh er sich von<br />

Rosalinde einen kleinen Handspiegel aus und hielt ihn vor das malträtierte<br />

Schriftstück. Aus dem Spiegel las er vor: »Dieser Ausweis berechtigt dem<br />

Inhaber Rippel zum Handel mit Nadeln, Nägeln und Kratzbürsten. Rippel<br />

ist ein echter Korinther und Ehrenbürger der Hauptstadt Krampfestos.«<br />

Fassungslos glotzte Ziegenlippe in den Spiegel. »Nichts«, kreischte er,<br />

»nichts ist zu erkennen. Kein Wort, kein Satz.«<br />

»Ach ja«, erläuterte Zippel herablassend, »ich hatte vergessen zu<br />

sagen, dass der Ausweis in korinthischen Hieroglyphen geschrieben ist und<br />

von Stachelländern nicht entziffert werden kann.«<br />

Ziegenlippe klappte den Mund auf. Das war zuviel für ihn. Einen letzten,<br />

verzweifelten Einwand versuchte er noch zu krächzen, aber Krieger hatte<br />

das ganze Gefasel über. »Schluss jetzt«, herrschte er Ziegenlippe an, »der<br />

Mann ist in Ordnung. Hat Mut bewiesen. Ein rechter Haudegen nach mei-<br />

nem Geschmack. Dieser Schneider Zippel soll doch ein ganz erbärmlicher<br />

Feigling sein. Rippel ist aus einem anderen Holz geschnitten. Er kommt mit<br />

in die Stachelburg und feiert mit uns. Mit diesen Korinthern muss man sich<br />

gut stellen. Sie können einem noch von Nutzen sein.«<br />

»Stech dich, krtzkrr!« grölte die durstige Meute, die nach Fuselschnaps<br />

gierte. Hauptmann Bleifuß und seine Eskorte nahm Zippel in die Mitte. Joh-<br />

lend rückten die Söldner wieder in die Stachelburg ein. Wie eine Dampf-<br />

walze schob Hauptmann Bleifuß den Schneider durch die verwüsteten Gas-<br />

sen. Zippel konnte gerade noch einen letzten Blick auf den Marktplatz wer-<br />

fen, bevor die Stachelburg ihn verschlang: verlassen hockte Rosalinde in<br />

dem Trümmerfeld und blickte ihm hoffnungslos nach. Tränen verschleier-<br />

ten ihre sonst so klaren blauen Augen. 'Hoffentlich findet sie den Ausweis',<br />

dachte Zippel. Er hatte ihn wie achtlos auf den Boden fallen gelassen,<br />

bevor Bleifuß ihn wegtrieb.

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