PDF-Format - Hans Joachim Teschner
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Zippel schlug die Augen auf.<br />
»Wo bin ich?« stammelte er noch etwas benommen. Verwundert starrte<br />
er auf seine rechte Hand: Die Gummibärchen waren verschwunden. Wie<br />
eine gichtige Kralle stachen seine aufgebogenen Finger in den Sand. Wäh-<br />
rend er Leben und Blut in seine Finger hineinmassierte, glaubte er einen<br />
leisen Tritt zu vernehmen, der sich eilig entfernte. Das Stoßen eines Krück-<br />
stockes schien die Schritte zu begleiten.<br />
Nun erst bemerkte Zippel die bizarre Kulisse, die sich vor dem grauen<br />
Horizont abzeichnete. Eine düstere spitzwinklige Burg erhob sich drohend<br />
über eine Stadt aus verkommenen Bruchbuden, schiefen Hütten und bau-<br />
fälligen Kasernen. Die Türme und Zinnen der Burg hatten die Form von rie-<br />
sigen Stacheln, die nicht nur steil in den Himmel ragten und die tief hän-<br />
gende Wolkendecke ritzten, sondern auch seitlich, quer und in alle Rich-<br />
tungen stachen, so, als wollten sie argwöhnisch die ganze Stadt belauern<br />
und sich gegebenenfalls auf sie stürzen. Aasgeier hockten mit eingezoge-<br />
nen glatzigen Schädeln auf den Häuserfirsten, und Schwärme von Fleder-<br />
mäusen flatterten durch die schwarzen Löcher zerborstener Fensterschei-<br />
ben. Das irre Schreien einer räudigen Katze wehte zu Zippel hinüber. Eine<br />
dünne gelbliche Rauchfahne hinter der meterdicken Stadtmauer verriet<br />
menschliches Leben in den Trümmern der Unterstadt. Glasscherben und<br />
Stacheldraht auf der Mauer ließen eindeutige Rückschlüsse auf die Gast-<br />
freundschaft der Bewohner zu. Das einzige eiserne Tor, zu dem die Straße<br />
führte, war fest verschlossen und schien nur am Tage geöffnet zu werden.<br />
»Stachelburg«, flüsterte Zippel beklommen. Er konnte den Blick nicht<br />
von der Zitadelle wenden, die sich wie ein gefräßiges Stacheltier zwischen<br />
die windschiefen Behausungen eingegraben hatte.<br />
Ein scheppernder, geborstener und unharmonischer Glockenklang kün-<br />
dete die stachelländische Uhrzeit an. Sechsmal, in unregelmäßigen Abstän-<br />
den, gellte der Missklang über das Land. Träge erhob sich ein Geier in die<br />
Lüfte, dann noch einer und noch einer. Fensterläden klapperten, und ein<br />
Hahn krähte.<br />
Zippel erhob sich und klopfte seine Kleider ab. »Es ist soweit«, murmel-<br />
te er. Entschlossen schulterte er seinen Bauchladen.