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Skripten - an der Fakultät für Mathematik! - Universität Wien

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4.1. NAIVE MENGENLEHRE 43<br />

Im Jahr 1878 versuchte er eine weitere Publikation im Crelle-Journal, doch stieß er auf<br />

heftigen Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>d <strong>der</strong> damals Ton <strong>an</strong>gebenden mathematischen Schule <strong>der</strong> Konstruktivisten<br />

mit ihrem führenden Kopf Leopold Kronecker (1823–1891), die keine mathematischen<br />

Sachverhalte akzeptieren wollten, die sich nicht in endlich vielen Schritten aus den natürlichen<br />

Zahlen konstruieren ließen. Erst nach massiver Intervention von Karl Weierstrass (1815–<br />

1897) wurde die Arbeit schließlich akzeptiert. Das war <strong>der</strong> Beginn eines l<strong>an</strong>gen Kampfes<br />

innerhalb <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> um ihre philosophischen und später auch logischen Grundlagen,<br />

<strong>der</strong> z.B. durch folgende Zitate schön belegt werden k<strong>an</strong>n:<br />

Aus dem Paradies [die Mengenlehre], das C<strong>an</strong>tor uns geschaffen hat, soll<br />

”<br />

uns niem<strong>an</strong>d mehr vertreiben können.“ David Hilbert (1862–1943)<br />

Spätere Generationen werden die Mengenlehre als Kr<strong>an</strong>kheit <strong>an</strong>sehen, die<br />

”<br />

m<strong>an</strong> überwunden hat.“ Jules Henri Poincare (1854–1912)<br />

Dieser Kampf wurde nicht nur auf mathematischer son<strong>der</strong>n auch auf menschlicher Ebene<br />

ausgetragen, so blockierten etwa Kronecker und Herm<strong>an</strong>n Schwarz (1843–1921) C<strong>an</strong>tors<br />

Stellenbewerbungen.<br />

Von 1879 bis 1884 veröffentlichte C<strong>an</strong>tor in den Mathematischen Annalen eine sechsteilige<br />

Abh<strong>an</strong>dlung über die Mengenlehre, die zu großen Kontroversen in <strong>der</strong> mathematischen<br />

Welt führte. Einige <strong>Mathematik</strong>er hielten sich <strong>an</strong> Kronecker, doch <strong>an</strong><strong>der</strong>e folgten C<strong>an</strong>tors<br />

Weg. So führte etwa Giuseppe Pe<strong>an</strong>o (1858–1932), nach seinem berühmten Satz über Differentialgleichungen<br />

(1886) und <strong>der</strong> ersten Definition eines Vektorraumes (1888) und vor<br />

seinen berühmten Pe<strong>an</strong>o-Kurven (1890), neben <strong>der</strong> Axiomatisierung <strong>der</strong> natürlichen Zahlen<br />

1889 auch das Zeichen ∈ in die Mengenlehre ein.<br />

Im Jahr 1897 f<strong>an</strong>d Cesare Burali-Forti (1861-1931) das erste Paradoxon in <strong>der</strong> Mengenlehre,<br />

obwohl es durch eine fehlerhaft verst<strong>an</strong>dene Definition des Begriffes ”<br />

wohlgeordnete<br />

Menge“ entwertet, wenn auch nicht ausgelöscht wurde. Interess<strong>an</strong>ter Weise ereignete sich<br />

<strong>der</strong> erste persönliche Erfolg <strong>für</strong> C<strong>an</strong>tor im selben Jahr auf einem <strong>Mathematik</strong>er-Kongress in<br />

Zürich, wo sein Werk zum ersten Mal positiv aufgenommen, ja von m<strong>an</strong>chen in höchsten<br />

Tönen gepriesen wurde.<br />

Nachdem C<strong>an</strong>tor selbst 1899 ein weiteres Paradoxon gefunden hatte, entdeckte schließlich<br />

Bertr<strong>an</strong>d Russell (1872-1970) im Jahre 1902 das ultimative Paradoxon (heute Russellsche<br />

Antinomie ), das insbeson<strong>der</strong>e wegen seiner Einfachheit die neuen Grundlagen <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

in ihren Grundfesten erschütterte. Russel betrachtete die Menge R aller Mengen, die sich<br />

nicht selbst enthalten; nennen wir solche Mengen ”<br />

vernünftig“. Die Frage ob R sich selbst<br />

enthält, führt nun zu einem Wi<strong>der</strong>spruch: Nehmen wir nämlich <strong>an</strong>, dass R ein Element von<br />

R ist, so ist R keine ”<br />

vernünftige“ Menge und k<strong>an</strong>n daher nicht Element von R sein. Ist<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>erseits R nicht Element von R, so ist R eine ”<br />

vernünftige“ Menge und es muss gelten,<br />

dass R Element von R ist.<br />

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Mengenlehre allerdings schon durchgesetzt. Sowohl<br />

die Analysis baute darauf auf als auch Teile <strong>der</strong> Algebra. Die Maßtheorie und das mengentheoretische<br />

Integral waren 1901 bzw. 1902 von Henri Lebesgue (1875–1941) erfunden<br />

worden. Daher wurde die Mengenlehre nicht gleich wie<strong>der</strong> verworfen, son<strong>der</strong>n es beg<strong>an</strong>n eine<br />

fieberhafte Suche nach einer ”<br />

Rettung“ <strong>der</strong> Mengenlehre ohne ihre wichtigsten Eigenschaften<br />

aufgeben zu müssen.<br />

Russell selbst versuchte, sein Paradoxon aus <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> ”<br />

wegzudefinieren“. In seinem<br />

sehr einflussreichen Werk Principia Mathematica, das er gemeinsam mit Alfred Whitehead<br />

(1861–1947) in den Jahren 1910–1913 veröffentlichte, stellte er eine Lösung mit Hilfe<br />

<strong>der</strong> Theory of types vor, doch diese wurde von den meisten nicht als befriedigend erachtet.

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