30.12.2012 Aufrufe

Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Dass diese und an<strong>der</strong>e Charaktertypen pathologisch sind, ist unmittelbar evident. Innerhalb<br />

<strong>der</strong> <strong>Kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> war aber umstritten, wie mit diesem Pathologischen umgegangen werden<br />

soll. Marcuse vertrat vehement die Position, dass den so geformten Individuen we<strong>der</strong><br />

geholfen werden könne noch geholfen werden dürfe. Das mochte angesichts des wirklichen<br />

Leids <strong>der</strong> Individuen zynisch und nihilistisch sein; in <strong>der</strong> Konsequenz aber war es bloß verbal<br />

radikal, wie Fromm polemisch immer wie<strong>der</strong> gegen Marcuse einwandte. 23 Fromm dagegen<br />

(wie übrigens später auch Lorenzer) beharrte darauf, dass nur im Ausgang von <strong>der</strong> klinischtherapeutischen<br />

Praxis das Pathologische solcher Charaktere begriffen und dann das damit<br />

verbundene Leid gemin<strong>der</strong>t werden könne. Psychoanalyse als <strong>Theorie</strong> hat für ihn – und, wie<br />

er nicht müde wird zu zeigen, eben auch für Freud – vorrangig eine die klinisch-therapeutische<br />

Praxis stützende Funktion und dürfe nicht, will man den Kern <strong>der</strong> Psychoanalyse nicht<br />

verfehlen, verselbständigt und somit unabhängig von <strong>der</strong> Therapie betrieben werden. 24<br />

Pathologisch ist aber auch <strong>der</strong> Charaktertypus, <strong>der</strong> spiegelbildlich verkehrt zu dem von<br />

Fromm analysierten das einzelne Individuum absolut setzt und seine Gesellschaftlichkeit,<br />

seine Empathie für An<strong>der</strong>e und Kooperativität mit An<strong>der</strong>en negiert. Diesen Charaktertypus,<br />

<strong>der</strong> heute in den Zeiten des Neoliberalismus dominiert, 25 sieht Fromm in <strong>der</strong> <strong>Theorie</strong> Marcuses<br />

angelegt: So bilde die von Marcuse mit gepredigte »sexuelle Revolution« einen Konsumismus<br />

heraus, 26 in dem die vereinzelten Einzelnen nur noch sich selbst und ihr Wohlergehen<br />

im Auge haben, aber kaum Verantwortlichkeit für An<strong>der</strong>e übernehmen wollen und im<br />

Ausleben ihrer je vereinzelten Triebe An<strong>der</strong>e nur noch als Mittel, objekte und Dinge ihrer<br />

Triebbefriedigung gebrauchen.<br />

Gerade hier in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem gegenwärtigen Neoliberalismus lohnt<br />

sich eine Weiterführung <strong>der</strong> Arbeiten Fromms, insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> vergleichenden Diskussion<br />

mit Pierre Bourdieu und Norbert Elias. Der von Fromm vorgeschlagene sozialpsychologische<br />

Begriff des Charakters und seiner Bildung verweist zunächst einmal zurück auf<br />

Marxens polit-ökonomischen Begriff <strong>der</strong> Charaktermaske. Weiter steht <strong>der</strong> Begriff des Charakters<br />

systematisch an dem ort, an dem Bourdieu o<strong>der</strong> Elias soziologisch von »Habitus«<br />

sprechen. Die (Aus-)Bildung eines Habitus wird von Elias eher unspezifisch als Moment<br />

<strong>der</strong> Erziehung, Dressur und Disziplinierung gefasst, bei Bourdieu im Kontext <strong>der</strong> Schul-<br />

23 Vgl. Erich Fromm: Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewußten, in: <strong>der</strong>s.: Schriften aus dem Nachlaß,<br />

Bd. 3, Weinheim, Basel 1990.<br />

24 Adorno, <strong>der</strong> ebenfalls vehement die klinisch-therapeutische Praxis <strong>der</strong> Psychoanalyse kritisierte, schränkte seine<br />

Kritik im Unterschied zu Marcuse auf Karen Horney sowie <strong>der</strong>en Schule und den damit verbundenen modischen<br />

Therapie-Boom in den USA ein. – Vgl. Theodor W. Adorno: Die revidierte Psychoanalyse, in: <strong>der</strong>s.: Soziologische<br />

Schriften I, GS, Bd. 8, Frankfurt am Main 1997, S. 20-41; Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie,<br />

ebenda, S. 42-85; Adorno: Postscriptum, ebenda, S. 86-92. Vgl. hierzu ferner die Arbeiten von Eva Illouz: Gefühle<br />

in Zeiten des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2006; dies.: Der Konsum <strong>der</strong> Romantik, Frankfurt am Main 2007;<br />

dies.: Die Errettung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Seele: Therapie, Gefühle und die Kunst <strong>der</strong> Selbsthilfe, Frankfurt am Main 2009.<br />

25 Vgl. Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst, Frankfurt am Main 2007; Alain Ehrenberg: Das erschöpfte<br />

Selbst, Frankfurt am Main 2008.<br />

26 Vgl. Eva Illouz: Der Konsum <strong>der</strong> Romantik.<br />

103

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!