Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Hierbei zeigt sich: In <strong>der</strong> fortgeschrittenen Gesellschaft des Spektakels kann die totale<br />
<strong>Krise</strong> nicht mehr durch die kulturindustrielle Totalität verleugnet, bzw. verdeckt werden.<br />
Vielmehr wird kraft <strong>der</strong> ubiquitären Popkultur die permanente Systemkrise von einer Vielzahl<br />
an <strong>Krise</strong>nrealitäten wie <strong>Krise</strong>nimaginationen und -phantasmagorien symbolisch-sinnlos o<strong>der</strong><br />
allegorisch-konfus, subversiv o<strong>der</strong> affirmativ, suggestiv o<strong>der</strong> assoziativ, aber auch hysterisiert<br />
o<strong>der</strong> panisch temporär banalisiert und bagatellisiert – auf diese Weise gleichsam strukturell<br />
verharmlost.<br />
Ging man in <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> Kulturindustrie noch davon aus, dass die <strong>Krise</strong> unsichtbar gemacht<br />
und verheimlicht werden müsste, um sie zu entschärfen, operiert <strong>der</strong> Pop im Gegenteil<br />
mit <strong>der</strong> drastischen Überzeichnung, sogar <strong>der</strong> illustrativen und allegorischen Verstärkung <strong>der</strong><br />
<strong>Krise</strong>. In <strong>der</strong> Kulturindustrie wurde vermieden, die <strong>Krise</strong> zu thematisieren. Allerhöchstens kanalisierte<br />
sich die gesellschaftliche <strong>Krise</strong> in kleine, private <strong>Krise</strong>n, erschien die soziale Misere<br />
als persönliches Schicksal. Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> zu zeigen, blieb <strong>der</strong> Avantgarde o<strong>der</strong> den experimentellen<br />
Randzonen <strong>der</strong> Kulturindustrie überlassen: Dada und Surrealisten, Kuhle Wampe,<br />
Charlie Chaplin, Donald Duck o<strong>der</strong> Woody Guthrie. Mit dem Pop wird die Kultur pseudoreflexiv,<br />
retrospektiv-redundant und selbstreferenziell. Im Pop und über den Pop hinaus definiert<br />
die illustrative Hyperinszenierung <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> das integrierte Spektakel: Aus <strong>der</strong> Dramatisierung<br />
resultiert die Verharmlosung, wie es die ohnmächtigen Wie<strong>der</strong>holungsschleifen <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Terroranschläge vom 11. September 2001 deutlich gemacht haben. Solche Ästhetisierung <strong>der</strong><br />
Politik setzt sich in den Katastrophen, den Erdbeben, Tsunamis und Wirbelstürmen fort, aber<br />
auch in den gewöhnlichen Bil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Unterbrechung, Ablenkung o<strong>der</strong> Überdeckung: Der<br />
Werbeblock, <strong>der</strong> in die Nachrichten vom Unheil eingeschaltet wird; die Casting-Show, die<br />
mit dem Katastrophenbericht um die Quoten konkurriert; die Auswahlmöglichkeit zwischen<br />
<strong>der</strong> Spielfilm-Komödie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Dokumentation über die Elendsquartiere dieser Welt; und so<br />
weiter. Die Bil<strong>der</strong> immunisieren sich gegenseitig. Unweigerlich schwächt die symbolischideologische<br />
Überakkumulation <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>ninszenierungen die Urteilskraft. Kritik gründet<br />
nicht länger, wie noch im Zeitalter <strong>der</strong> Aufklärung, im realen Humanismus <strong>der</strong> die Verhältnisse<br />
transzendierenden Entscheidung. Im vermeintlich aufgeklärten Zeitalter, dem sogenannnten<br />
Medien- und Informationszeitalter, hat Kritik eben diese aufklärende Reflexivität verloren.<br />
Sie ist damit in dem Sinne entradikalisiert, dass es sinnlos wird, nach dem Marxschen Wort<br />
ad hominem zu demonstrieren. 69 Kritik wird damit das, was sie alltagssprachlich längst bedeutet:<br />
bloße Meinung, Herummäkeln, Meckern um des Meckerns willen – und damit apathisch<br />
und indifferent. Marcuse hat schon zu Beginn <strong>der</strong> 1960er Jahre von einer »Paralyse <strong>der</strong><br />
Kritik« gesprochen, die sich in einer prekären Ambivalenz fortgesetzt hat: Nicht nur über-<br />
dass je<strong>der</strong> sich selbst regieren müsse (»Let The People Rule« propagierte Reagan 1975 in einer Rede). – In Erweiterung<br />
o<strong>der</strong> Ergänzung <strong>der</strong> Foucaultschen Unterscheidung von Souveränitäts- und Disziplinargesellschaft führt<br />
Gilles Deleuze zur machtspezifischen Charakterisierung des Postfordismus den Begriff <strong>der</strong> Kontrollgesellschaft<br />
ein. – Vgl. Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: <strong>der</strong>s.: Unterhandlungen. 1972–1990,<br />
Frankfurt am Main 1993, S. 254 ff.<br />
69 Vgl. Karl Marx: Zur Kritik <strong>der</strong> Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, S. 385.<br />
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