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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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<strong>Luxemburg</strong> gehört nicht von ungefähr zur geistigen Strömung des westlichen Marxismus.<br />

Dieser ist eine undogmatische Suchbewegung und verhält sich gegenüber <strong>der</strong> Marxschen<br />

<strong>Theorie</strong> kritisch, 82 speist sich wie bei Marx aus <strong>der</strong> humanistischen Tradition und zehrt von<br />

den Errungenschaften <strong>der</strong> bürgerlichen Freiheiten für das Individuum. Engels hat die existentielle<br />

Abhängigkeit <strong>der</strong> Arbeiterbewegung von den bürgerlichen Errungenschaften <strong>der</strong><br />

politischen Freiheit, die auf dem revolutionären Weg <strong>der</strong> Emanzipation gebraucht und verteidigt<br />

werden müssen, sehr eindringlich erklärt:<br />

»Selbst in dem äußersten Fall, daß die Bourgeoisie, aus Furcht vor den Arbeitern, sich<br />

unter <strong>der</strong> Schürze <strong>der</strong> Reaktion verkriechen und an die Macht <strong>der</strong> ihr feindlichen Elemente<br />

um Schutz gegen die Arbeiter appellieren sollte – selbst dann wird <strong>der</strong> Arbeiterpartei nichts<br />

übrigbleiben, als die von den Bürgern verratene Agitation für bürgerliche Freiheit, Preßfreiheit,<br />

Versammlungs- und Vereinsrecht trotz <strong>der</strong> Bürger fortzuführen. ohne diese Freiheiten<br />

kann sie selbst sich nicht frei bewegen; sie kämpft in diesem Kampf für ihr eigenes Lebenselement,<br />

für die Luft, die sie zum Atmen nötig hat.« 83<br />

Was zur Überwindung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft eine notwendige Voraussetzung ist,<br />

soll auch nach <strong>der</strong> Revolution nicht liquidiert, son<strong>der</strong>n im Gegenteil: konkretisiert, das heißt<br />

im Hegelschen Sinne dialektisch aufgehoben und damit erst wahrhaftig verwirklicht werden.<br />

Die Freiheit des Kollektivs darf mithin nicht zu Lasten <strong>der</strong> Freiheiten <strong>der</strong> Individuen gehen.<br />

Zu den Protagonisten eines solchen undogmatischen, westlichen Marxismus dieser Zeit zählten<br />

Georg Lukács und vor allem Karl Korsch, 84 die den in dieser Phase <strong>der</strong> Kommunistischen<br />

Internationale noch vorhandenen, freilich immer kleiner werdenden Spielraum für innerparteiliche<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzungen sowie für kontroverse theoretische Diskussionen genutzt<br />

haben, um die Verdinglichung des Marxismus zu reflektieren. Das Zeitfenster schloss sich<br />

allerdings bereits.<br />

82 Kritik ist ein solidarisches Moment: Ausdruck von Berührung, gleichsam von Zuneigung und Liebe. Was nicht kritisiert<br />

wird, wird entwe<strong>der</strong> gleichgültig ignoriert, überhöht o<strong>der</strong> verachtet. Allzu oft wird Liebe mit Ehrfurcht verwechselt,<br />

die Kritik ausschließt. Gegenstand <strong>der</strong> Kritik ist in einem Liebesverhältnis allerdings nicht die Schwäche<br />

als Schwäche. Es gilt Adornos Aphorismus: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne<br />

Stärke zu provozieren.« – Adorno: Minima Moralia, Aph. 122, S. 255. – Weil wir mit unseren Feinden oft kritischer<br />

als mit unseren Freunden ins Gericht gehen, scheint es so, als liebten wir unsere Feinde mehr als unsere Freunde.<br />

Insofern gilt <strong>der</strong> Spruch: Wer liebenswürdige Feinde hat, braucht keine Freunde mehr. In Wahrheit erweisen wir<br />

uns gegenüber unseren Freunden lediglich als liebesunfähig, wenn wir ihre Nähe suchen, um es uns heimelig, das<br />

heißt wärmend einzurichten.<br />

83 Friedrich Engels: Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei (1865), in: MEW, Bd. 16, S. 77.<br />

84 Korsch, auf den ideengeschichtlich die juristische Aktion (Jürgen Seifert) zurückgeht, wies darauf hin, dass erworbene<br />

Rechtspositionen nicht leichtfertig preisgegeben werden dürfen, weil das Recht aus dem emanzipatorischen<br />

Kampf hervorgegangen ist und zugleich eine verbesserte Ausgangslage darstellt für die weiteren Kämpfe des geschichtlichen<br />

Entwicklungsprozesses. Buckmiller wendet allerdings ein: »An<strong>der</strong>erseits können Rechtspositionen<br />

nur gehalten werden, wenn die grundsätzlichen Illusionen über das bürgerliche Recht preisgegeben werden und<br />

dadurch die revolutionäre Kampfkraft sich zu einem realsoziologischen Bedrohungsfaktor steigert, <strong>der</strong> die infrage<br />

gestellten Rechtspositionen auch tatsächlich machtpolitisch zu halten in <strong>der</strong> Lage ist.« – Michael Buckmiller: Karl<br />

Korsch (1886–1961). Marxistische <strong>Theorie</strong> und juristische Aktion, in: <strong>Kritische</strong> Justiz (Hg.): Streitbare Juristen.<br />

Eine an<strong>der</strong>e Tradition. Jürgen Seifert zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1988, S. 262.<br />

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