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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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dings erlebt <strong>der</strong> Einzelne den Psychoanalytiker als Person <strong>der</strong> frühen Kindheit, kann hinter<br />

seine eigene Kulisse blicken und sich produktiv reflektieren. In <strong>der</strong> Regel aber bleiben dem<br />

Individuum die Ursachen und die Motive seiner Handlungen verschlossen. Dies wie<strong>der</strong>um<br />

ist eine wichtige Ursache für Konflikte. Denn wir verwechseln oft, infolge <strong>der</strong> Übertragung,<br />

Illusionen mit <strong>der</strong> Wirklichkeit und erkennen den An<strong>der</strong>en nicht wie er ist. Das führt zu Enttäuschungen<br />

und zur Wut auf den an<strong>der</strong>en. Man versteht nicht, dass man selbst es ist, <strong>der</strong><br />

enttäuscht hat. Die Illusionen werden übertragen, die Wirklichkeit wird nicht gesehen. Die<br />

politische Dimension: Das Moment <strong>der</strong> Befreiung aus autoritätsgebundener Abhängigkeit<br />

hin zu gesellschaftlicher Verän<strong>der</strong>ung liegt in <strong>der</strong> Möglichkeit, dass sich das Individuum seiner<br />

Illusionen entledigt, sich selbst in seinem Verhältnis mit und zu An<strong>der</strong>en versteht und<br />

somit vernünftig handeln kann. Für Adorno ist die Erkenntnis des Unbewussten wesentlich<br />

Erkenntnis <strong>der</strong> »psychischen Dinglichkeit« 41 . Der autoritätsgebundene Mensch scheint so<br />

seiner verinnerlichten Unterdrückung ausgeliefert.<br />

Seit Anfang <strong>der</strong> 1960er Jahre for<strong>der</strong>te Adorno programmatisch eine »Wendung aufs Subjekt«<br />

42 . Vor dem Hintergrund des Fehlens sozialer Bewegungen ging er davon aus, dass autoritäre<br />

Charakterstrukturen die Mentalitäten und Alltagspraktiken <strong>der</strong> Bevölkerung im Fordismus<br />

dominierten. Das Individuum sei nicht in <strong>der</strong> Lage, sich als Individuum in seiner<br />

Beson<strong>der</strong>heit zu entfalten. »Den Verblendungszusammenhang zu durchschauen, mutet ihnen<br />

eben die schmerzliche Anstrengung <strong>der</strong> Erkenntnis zu, an welcher die Einrichtung des Lebens,<br />

nicht zuletzt die zur Totalität aufgeblähte Kulturindustrie, sie hin<strong>der</strong>t.« 43 Dagegen setzte<br />

Adorno die Aufarbeitung <strong>der</strong> Vergangenheit, mithin ein Aufheben des Verdrängten und ein<br />

Ent-decken des Unbewussten. Adorno schlug eine »Erziehung <strong>der</strong> Erzieher« vor, skizzierte<br />

eine Pädagogik, die sich <strong>der</strong> re-education widmet, und versuchte hierbei den Spagat zu bewältigen,<br />

indem er im Aufgreifen des Ausdrucks re-education gegen den autoritären Adenauer-Staat<br />

grundlegende Liberalisierungen einfor<strong>der</strong>te, die aber zugleich eben über den Liberalismus<br />

hin zu einer Gesellschaft »mündiger Bürger« 44 hinausführen sollten. Er plädierte<br />

für eine soziologische Erforschung unserer eigenen Periode: eine Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Kriminologie<br />

und ein Zulassen <strong>der</strong> Psychoanalyse, die deshalb verdrängt werde, weil sie »genau<br />

in jener kritischen Selbstbesinnung besteht, welche die Antisemiten in Weißglut versetzt«. 45<br />

Die notwendige Aufarbeitung <strong>der</strong> Vergangenheit und die Aufhebung des Verdrängten, mithin<br />

die Erinnerung des Vergessenen als Prozess <strong>der</strong> Entdinglichung, könne nicht primär durch<br />

eine Verbreitung von Faktenwissen erfolgreich sein. Vielmehr sollten die Individuen als Sub-<br />

41 So Adorno schon in dem frühen, von ihm verworfenen Manuskript von 1927: Der Begriff des Unbewussten in <strong>der</strong><br />

transzendentalen Seelenlehre, in: <strong>der</strong>s.: Philosophische Frühschriften, GS, Bd. 1, Frankfurt am Main 1997, S. 79-322.<br />

42 Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main 1969, S. 27.<br />

43 Ebenda, S. 22.<br />

44 Dass <strong>der</strong> Ausdruck »Mündigkeit« in begrifflicher Hinsicht durchaus problematisch ist, hat Markus Rieger-Ladich<br />

systematisch herausgearbeitet. – Vgl. Markus Rieger-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur<br />

pädagogischen Semantik, Konstanz 2002.<br />

45 Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, S. 25.<br />

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