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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Diese beiden Bedeutungen des Ethischen schließen sich gegenseitig nicht aus, vielmehr<br />

ergänzen sie sich und führen in ihrer konkreten gegenwärtigen Gestalt auf dasselbe Problem<br />

zurück: Der Rekurs auf Ethik, auf ethisches Vokabular, auf bestimmte Werte und Moralprinzipien<br />

birgt in sich oft die Tendenz, Maßnahmen und Handlungen gerade dann zu legitimieren,<br />

wenn ihre moralische Bedeutung und Gerechtigkeitsansprüche fragwürdig werden. Entspringt<br />

das Bedürfnis nach Ethik einem bestimmten <strong>Krise</strong>nbewusstsein, oft einer konkreten<br />

<strong>Krise</strong>nsituation, so erweist sich die konkrete Gestalt einer solchen Ethik als eine latente Fortsetzung<br />

eben jener Probleme, die in <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> ans Tageslicht rücken – nämlich in Form von<br />

Ideologie.<br />

Eine kritische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Normen und Verhaltensweisen, die sich als ethisch<br />

verstehen und damit Allgemeingültigkeit beanspruchen, ist keine neue Idee. Spätestens seit<br />

Nietzsches »Genealogie <strong>der</strong> Moral« wird ethischen Ansprüchen oft mit Skepsis begegnet.<br />

Das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer philosophischen Lehre, die sich mit <strong>der</strong> Idee eines<br />

»richtigen« o<strong>der</strong> »guten« Lebens beschäftigt, hat aber nicht nachgelassen. Die Gleichzeitigkeit<br />

von Bedürfnis nach Ethik und <strong>der</strong>en abermaligen Verrat macht für Theodor W. Adorno<br />

diese Lehre zur »traurigen Wissenschaft«. 1 In <strong>der</strong> gesellschaftlichen Formation des Spätkapitalismus<br />

wird nach Adorno eine Ethik als Lehre vom richtigen Leben zu einem wishful<br />

thinking, zu einer trügerischen Illusion: Sie wird zu einer Ideologie. Um auf die <strong>Krise</strong>n <strong>der</strong><br />

Zivilisation Mitte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts Antworten zu finden, werde nach Adorno die Ethik<br />

zu einer Verdeckung des <strong>Krise</strong>nhaften, <strong>der</strong> Probleme und ihrer (gesellschaftlichen) Ursprünge.<br />

Diese Gedanken entfaltet Adorno vor allem in seiner »Minima Moralia«, geschrieben<br />

während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, ebenso wie in seiner einige Jahre<br />

später gehaltenen Vorlesung über die »Probleme <strong>der</strong> Moralphilosophie«, in <strong>der</strong> über die<br />

Wende zur Ethik in den Jahren nach den verheerenden Ereignissen reflektiert wird.<br />

Einen ähnlichen, wenn auch an<strong>der</strong>s konzipierten Begriff von »ethischer« Ideologie findet<br />

sich im Denken des französischen Philosophen Alain Badiou. In seinem Buch »Ethik. Versuch<br />

über das Bewußtsein des Bösen« 2 veröffentlicht 1993 – in den ersten Jahren des ethical<br />

turn und unmittelbar nach <strong>der</strong> »<strong>Krise</strong> des Marxismus« – , setzt sich Badiou mit den neuen<br />

Erscheinungsformen des Ethischen auseinan<strong>der</strong> und dechiffriert sie als Ausdruck des herrschenden<br />

affirmativen Denkens, das <strong>der</strong> »ökonomischen Notwendigkeit« 3 eine geistige, moralische<br />

Bedeutung zu verleihen beabsichtigt.<br />

In ihrem jeweiligen Verständnis von »ethischer« Ideologie ließen sich Adorno und Badiou<br />

– als Vertreter <strong>der</strong> älteren und neueren Form kritischer <strong>Theorie</strong> – in Zusammenhang bringen. 4<br />

1 Theodor W. Adorno: Minima Moralia, in: Ders: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 1997, S. 13.<br />

2 Alain Badiou: L’éthique: essai sur la conscience du mal, éd. Hatier, Paris 1993; dt. Ausgabe: Ethik. Versuch über<br />

das Bewußtsein des Bösen, Wien 2003.<br />

3 Ebenda, S. 47.<br />

4 In einem kurzen Aufsatz aus dem Jahre 2002 geht Peter Dews ebenfalls von einem solchen Zusammenhang im<br />

Denken bei<strong>der</strong> Philosophen aus, nämlich in ihrer Kritik des herrschenden Ethikdiskurses, argumentiert allerdings<br />

gegen Badious positive Alternative einer »Ethik <strong>der</strong> Wahrheit« – und zwar mithilfe <strong>der</strong> Ethikkritik Adornos, die<br />

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