Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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gleich diesen Boden selbst infrage stellen. Wo sie das nicht tun, ist <strong>der</strong> Zustand nachkritisch,<br />
und das bringt Kritik selber in einen kritischen Zustand.« 2<br />
Nicht von ungefähr hat man in diesem Zusammenhang vom Veralten <strong>der</strong> Kritik, bzw. <strong>der</strong><br />
ihr zugrundeliegenden <strong>Theorie</strong> gesprochen. Aber dieses Altern <strong>der</strong> Kritik ist nicht etwa dem<br />
Veralten ihres Gegenstandes anzulasten, nach wie vor haben destruktive <strong>Krise</strong>npotentiale gegenwärtiger<br />
Gesellschaften ihren Bestand. Entsprechend kann davon ausgegangen werden,<br />
dass die Infragestellung <strong>der</strong> Relevanz von Kritik die Funktion des ideologischen Wegredens<br />
real bestehen<strong>der</strong> sozialer <strong>Krise</strong>n mitträgt.<br />
Die Paralyse <strong>der</strong> Kritik heute wird dabei vielfach mit dem Argument verbunden, Kritik<br />
habe ihre emanzipative Kraft verloren, denn sie sehe sich in einem »Zeitalter <strong>der</strong> flüchtigen<br />
Mo<strong>der</strong>ne« 3 mit einer offenheit konfrontiert, <strong>der</strong>en integrativer Sog gleichsam gleichgültig<br />
jedwede kritische Artikulation nebeneinan<strong>der</strong> stellt und in einer Art »repressiver Toleranz« 4<br />
nivelliert. Zygmunt Baumann malt zur Verdeutlichung dieses Zustandes das sehr einprägsame<br />
Bild eines Campingplatzes, auf dem sich je<strong>der</strong> mit seinem Wohnwagen dazustellen kann. 5<br />
Angesichts dieser schleichenden Integration <strong>der</strong> Kritik konstatiert Baumann ihre »Zahnlosigkeit«,<br />
ihren Qualitätsverlust: »sie än<strong>der</strong>t nichts an <strong>der</strong> Tagesordnung unserer alltäglichen<br />
Entscheidungen«. 6<br />
Bedeutet die Schutzlosigkeit gegenüber ihrer Einverleibung somit auch ein Ende <strong>der</strong> Kritik?<br />
Die Frage stellt sich heute beson<strong>der</strong>s dringlich, obgleich Kritik seit jeher nicht vor Vereinnahmung<br />
und Integration gefeit war. »Kein Gedanke«, so Adorno, »ist immun gegen seine<br />
Kommunikation, und es genügt bereits, ihn an falscher Stelle und in falschem Einverständnis<br />
zu sagen, um seine Wahrheit zu unterhöhlen.« 7 Und doch, trotz zunehmenden Qualitätsverlustes<br />
im Sinne <strong>der</strong> von Baumann zutreffend beschriebenen Konsequenzlosigkeit <strong>der</strong> Kritik,<br />
ist gegenwärtig mit beson<strong>der</strong>er Entschiedenheit an einem qualitativen Kritikbegriff festzuhalten,<br />
<strong>der</strong> sich freilich immer schon normativer Vorentschiedenheiten bedient. Denn zu bedrohlich<br />
gestalten sich die strukturellen gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, ökologischen<br />
Entwicklungen im Weltmaßstab nicht min<strong>der</strong> als in partikularen Zusammenhängen,<br />
als dass man sich leisten könnte, sich ihrer kritischen Untersuchung und Erörterung aus bequemer,<br />
institutionell geför<strong>der</strong>ter Ratlosigkeit zu enthalten.<br />
Ihren normativen Maßstab erhebt Kritik dabei aus ihrem Interesse an <strong>der</strong> Aufhebung gesellschaftlichen<br />
Unrechts. ohne einen normativen Geltungsanspruch, <strong>der</strong> die Realität mahnt,<br />
dem zu entsprechen, was in seinem Begriff enthalten ist, wobei freilich im Begriff selbst bereits<br />
die emanzipative Ausrichtung des mit dem Begriff Gefor<strong>der</strong>ten mit angelegt ist, steht <strong>der</strong> im-<br />
2 Christoph Türcke: Das Altern <strong>der</strong> Kritik, in: Pädagogische Korrespondenz, Heft 22, 1998, S. 6 ff.<br />
3 Vgl. Zygmunt Baumann: Flüchtige Mo<strong>der</strong>ne, Frankfurt am Main 2003.<br />
4 Herbert Marcuse: Repressive Toleranz, in: Robert Paul Moore u. a.: Kritik <strong>der</strong> reinen Toleranz, Frankfurt am Main<br />
1968, S. 93.<br />
5 Vgl. Baumann: Flüchtige Mo<strong>der</strong>ne, S. 35.<br />
6 Ebenda, S. 34.<br />
7 Theodor W. Adorno: Minima Moralia, in: <strong>der</strong>s.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 1997, S. 29 f.<br />
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